Veröffentlicht: 15.09.2025. Rubrik: Historisches
Das geflüsterte Versprechen 1-4
Kapitel 1
Die Luft roch nach frischem Brot vom Bäcker gegenüber, als Clara den Strauß vollendete. Ihre zierlichen Hände ordneten einen letzten Zweig Schleierkraut an der Seite, dann schlang sie ein cremefarbenes Band darum. Sie reichte dem Fremden ihr Werk, und für einen Moment berührten sich ihre Finger mit den seinen.
Ein fast unmerklicher Strom schien durch sie hindurchzugehen. Beide hoben gleichzeitig den Blick, doch Clara senkte schnell wieder ihre Augen, als habe sie sich ertappt.
„Er ist wundervoll,“ sagte er schließlich. „Ich wüsste nicht, wie man ihn verbessern könnte.“
Er zahlte mit einer Münze, die glänzend auf ihre Handfläche glitt. Dann fügte er hinzu:
„Verzeihen Sie – darf ich erfahren, wem ich diese Kunstfertigkeit verdanke?“
Clara strich eine Haarsträhne zurecht und erwiderte leise:
„Clara Bellamy. Seit kurzem führe ich diesen Laden.“
Er neigte den Kopf. „Ein schöner Name. Ich heiße Alexander Langley.“
Schon in diesem Augenblick ahnte sie, dass sein Name Gewicht trug – er sprach ihn nicht prahlerisch aus, doch der Tonfall verriet Herkunft und Stand.
Alexander hielt den Strauß fest umschlossen, und anstelle des schnellen Abschieds verweilte er noch. Er schien die Stille des Raumes zu schätzen, das gedämpfte Licht, die Wärme der vielen Blumen. Schließlich sagte er:
„Frau Bellamy, mögen Sie Musik?“
Clara sah überrascht auf. „Musik?“
„Ja. Ich dachte… vielleicht könnte ich Ihnen Karten für ein Konzert im Stadttheater überlassen. Als Dank für Ihre Mühe.“
Ein leiser Unmut huschte über Claras Gesicht. „Ich bind' Sträuße, Herr Langley. Dafür zahlt man, und die Sache ist erledigt. Ich brauche keine Belohnungen.“
Seine Mine veränderte sich kaum, doch in seinen Augen glomm ein Funkeln, das eher Vergnügen verriet als Kränkung. „Wie Sie wünschen. Dann nehme ich das als Einladung, wiederzukommen – und es ein weiteres Mal zu versuchen.“
Damit verneigte er sich leicht und verließ den Laden.
Clara stand einen Moment still. Noch immer hing in der Luft der feine Duft der Lilien, die er mitgenommen hatte. Ihr Herz schlug schneller als gewöhnlich – nicht vor Furcht, sondern aus einem Gefühl, das sie selbst noch kaum benennen konnte.
Draußen hörte man seine Schritte, die sich auf dem Pflaster entfernten. Doch zum ersten Mal seit langer Zeit war Clara sicher, dass jemand zurückkehren würde.
Kapitel 2
Die Tage vergingen, und Clara widmete sich ihrem Alltag: Sträuße für Hochzeiten, für Taufen, für den wöchentlichen Kirchenschmuck. Manchmal stand sie stundenlang über großen Körben voll nasser Blumen, ordnete Rosen nach Farbe, schnitt die Stiele genau an der richtigen Stelle ab. Es war Arbeit, die sie liebte – und doch ertappte sie sich immer wieder dabei, dass ihre Gedanken zu jenem Alexander Langley schweiften.
Einige Kunden bemerkten ihr verträumtes Lächeln, wenn sie doch eigentlich konzentriert sein sollte. „Sie haben viel von Ihrer Mutter“, sagte einmal die alte Kundin Roth, die schon ihre Eltern gekannt hatte. „Ihre Hände schaffen kleine Wunder.“
Clara dankte schüchtern, doch innerlich dachte sie: vielleicht war es nicht allein ihre Kunst, die sie zum Lächeln brachte.
Eines Nachmittags, als ein sanfter Regen Prasselmusik auf das Schaufenster trommelte, öffnete sich wieder die Tür. Sie wusste sofort, wer eintrat, noch ehe die Glocke zu Ende klingelte.
„Frau Bellamy,“ grüßte Alexander, den Hut in der Hand, mit Regentropfen auf den Schultern seines Mantels. „Ich sehe, Ihr Laden ist eine Oase selbst an grauen Tagen.“
Clara spürte, wie ihr Herz schneller schlug. „Sie bringen viel Regen herein, Herr Langley. Aber ich schätze, er gehört dazu.“
Ein leises Lachen entwich ihm. Diesmal bestellte er nicht sofort. Er blieb eine Weile bei ihr, betrachtete die Blumen, stellte Fragen über Pflege, Herkunft, sogar über die Sprache der Blumen, an die Clara seit Kindertagen glaubte.
„Die rote Rose bedeutet Liebe,“ erklärte sie, während ihre Finger sanft über eine Blüte strichen.
„Die weiße Lilie Reinheit. Und die Iris… Hoffnung.“
„Und wenn ich wissen wollte, was Ihre Augen bedeuten?“ fragte er leise, fast spielerisch.
Clara errötete und wandte sich rasch ab, griff nach einer Vase, um sich zu beschäftigen. „Dafür gibt es in den Büchern sicher kein Symbol.“
Er trat einen Schritt näher, doch hielt den Abstand, wie es sich für einen Mann seiner Herkunft gehörte. „Nein,“ sagte er. „Für manches schreibt kein Buch eine Erklärung.“
Draußen zog der Regen eine Vorhangwelt aus glänzenden Fäden. Und in dem kleinen Laden, zwischen dem Duft von Rosen und Veilchen, begann etwas Unausgesprochenes zu wachsen – zart wie ein junger Trieb, den man kaum zu berühren wagte.
Kapitel 3
Es war ein Freitag, als sich im Viertel eine gewisse Unruhe breit machte: Im großen Stadthaus der Familie von Riedemann sollte am Abend ein Empfang stattfinden. Clara hörte davon, als zwei ihrer Kundinnen im Laden leise über die passende Garderobe tuschelten – sie schwärmten von seidigen Roben in Pastelltönen, von Hüten mit Straußenfedern, und darüber, welche Damen wohl in den neuesten Pariser Schnitten erscheinen würden.
Clara lächelte nur höflich, während sie ihnen Sträuße zusammenstellte. Doch innerlich stach etwas in ihr: Ein Gefühl von Ferne zwischen ihr und jener Welt, die glänzend und unerreichbar schien.
Am Abend, als sie die Kasse schloss und die Kerzen im Laden löschte, stellte sie sich unwillkürlich vor, wie Alexander dort unter Kronleuchtern stand, inmitten jener Damen mit ihren Korsetts, den weit schwingenden Röcken aus schwerer Seide, den feinen Handschuhen, die über die Ellenbogen reichten. Sie sah sie vor ihrem inneren Auge: die hohen Krägen aus Spitze, zarte Schleierstoffe, und das Rascheln der Röcke, wenn sie sich im Tanz erhoben.
Clara hingegen trug am Abend meist ihr einfaches Baumwollkleid, dunkelblau, praktisch, mit einer Schürze, damit die Blumen sie nicht beschmutzten. Ihr Haar band sie zu einem schlichten Knoten, ohne die kunstvollen Frisuren, die in den Modeblättern präsentiert wurden.
Doch in genau derselben Nacht, nur Straßen entfernt von jenem Empfang, saß Alexander mit einem Glas Rotwein am Rand eines Salons, während die Musik eines Streichquartetts erklang. Um ihn herum lachten und plauderten die Damen, einige tuschelten, wer die Schönste im Saal sei.
Aber Alexander lächelte kaum. Er hörte die Musik, doch sein Blick schweifte immer wieder hinaus zum Fenster, wo der Regen das Glas benetzte. Er erinnerte sich an den kleinen Blumenladen, an Claras Stimme, an die Art, wie sie eine Rose in der Hand hielt, als sei sie etwas Lebendiges, Zerbrechliches. Keine der anwesenden Damen – in all ihrem Glanz, bedeckt von Samt und Seide – konnte dieses warme Bild verdrängen.
Gern hätte er zu ihr gesagt: „Sie sind schöner als all diese Gewänder, Clara, weil Ihr Wesen nicht verkleidet ist.“ Doch stattdessen musste er lächeln und Familienfreunden die Hand schütteln, höfliche Worte wechseln und wie ein Teil jener Welt wirken, die zu ihm gehörte.
Clara hingegen saß im dämmrigen Blumengeschäft, allein mit dem Duft ihrer Blumen. Sie strich über das rosa Band, das vom letzten Strauß übriggeblieben war, und dachte: Er gehört nicht hierher. So wie ich niemals dorthin gehören würde.
Und doch...
Kapitel 4
Es war ein klarer Herbstsonntag, die Bäume der Allee am Stadtpark trugen ihr erstes goldenes Laub. Clara hatte den Laden mittags geschlossen und gönnte sich einen seltenen Spaziergang.
Sie trug ihr bestes Kleid – ein hellgraues Wollkleid mit schmaler Taille, hoch geschlossenem Kragen und einem kleinen, einfachen Hut, geschmückt nur mit einem Blauveilchen. Nichts Prunkvolles, aber ordentlich, so wie ihre verstorbene Mutter es sie gelehrt hatte.
Sie genoss die frische Luft, das Knirschen des Kieses unter ihren Stiefeln. Kinder lachten am Brunnenrand, die Herren standen rauchend beisammen, und die Damen flanierten mit Sonnenschirmen, obgleich die Sonne nur schwach durch die Wolken brach.
Da hörte sie ihren Namen.
„Fräulein Bellamy?“
Sie wandte sich um – und da stand er. Alexander, im dunklen Gehrock, mit Handschuhen, der Hut lässig unter dem Arm. An seiner Seite jedoch eine elegante Dame, die mit sicherem Schritt auftrat. Ihr Kleid war tiefgrün, aus schwerem Seidensatin, der Rock weit ausgestellt, die Taille durch ein enges Korsett geformt, sodass die Haltung ganz aufrecht und stolz wirkte. Ein Hauch von Parfum lag um sie, stärker als jede Blume.
„Welch ein Zufall,“ sagte Alexander mit diesem warmen Lächeln, das Clara sofort wiedererkennen konnte. Er trat einen Schritt näher, während die Dame an seiner Seite mit einem prüfenden Blick Clara musterte.
„Alexander,“ begann jene Frau, „stellst du mich deiner Bekannten nicht vor?“
Für einen Moment stockte die Luft. Er sah zwischen beiden hin und her, dann sprach er ruhig:
„Dies ist Fräulein Clara Bellamy. Sie führt den schönsten Blumenladen der Stadt.“
Clara verneigte sich leicht, wie es sich gehörte, und spürte zugleich die Hitze aufsteigen: zwischen den Spitzenhandschuhen und der geschmückten Robe der anderen Dame fühlte sich ihr schlichtes Wollkleid beinahe arm.
Die Dame ließ ein kühles Lächeln aufblitzen. „Wie entzückend. Blumen sind gewiss ein angenehmes Gewerbe.“
Alexander schien die Spannung zu merken. Er sprach rasch: „Fräulein Bellamy, erlauben Sie mir – darf ich Sie begleiten? Vielleicht ein Stück durch den Park?“
Clara blickte überrascht, beinahe erschrocken. Eine Einladung im Beisein jener Dame – was würden die Umstehenden denken? Schon spürte sie die Blicke anderer Spaziergänger, die unauffällig, aber neugierig herübersehen.
Sie senkte schnell die Augen und sagte leise: „Das wäre wohl kaum passend, Herr Langley. Ich wünsche Ihnen beiden einen angenehmen Spaziergang.“
Mit einem schlichten Knicks verabschiedete sie sich und wandte sich dem Weg zu. Doch ihr Herz klopfte heftig – nicht aus Kälte, sondern weil sie spürte: die Grenze zwischen ihnen war deutlicher denn je sichtbar geworden.
Und Alexander? Er blieb zurück, sah ihr nach, wie sie zwischen den Bäumen verschwand, während an seiner Seite die schöne Dame spöttisch lächelte. Doch in seinen Augen lag kein Zweifel daran, wohin sein Herz gewandert war.

