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geschrieben 2025 von Jens A. Callert (JensACallert).
Veröffentlicht: 18.10.2025. Rubrik: Spannung


Die Treppe

„Ich habe dir immer gesagt, du musst die Treppenstufen besser sichern. Es war doch klar, dass eines Tages ein Unglück passieren wird“, schluchzte Frau Dallker herzzerreißend, während dicke Tränen ihren Weg auf das Ende der Treppe fanden. Die salzige Flüssigkeit tropfte als Ersatz für eine verbale Bitte um Verzeihung für elterliches Versagen auf das bereits erkaltete Blut ihrer kleinen Tochter und vermischte sich mit ihm auf eine gespenstisch anmutende Weise. Zärtlich strich sie über die rechte Wange des verunglückten Kindes. Fast hätte man meinen können, dass die roten Spuren des Blutes, die sie dabei hinterließ, eher auf Faschingsschminke als auf eine Tragödie hindeuteten. Wie sehr liebte der kleine Fratz den Kindergartenfasching! Er durfte auf keinen Fall verpasst werden! Hätte ihre Mutter auch nur geahnt, dass das erst kürzlich stattgefundene Kostümfest für ihre Tochter zu einer Art glanzvollem Abschiedsfest werden sollte, so hätte sie diesen Tag nie enden lassen! Der blutüberströmte Kopf des Mädchens ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass ihr die Kellertreppe zum Verhängnis wurde. Die Verletzungen des Schädels und des Gehirns waren so gravierend, dass das Mädchen sofort tot war, wie auch die Mutter des Kindes am Unglücksort sofort richtig geahnt hatte. Wütend blickte Frau Dallker zu ihrem Ehemann, der wie versteinert am oberen Ende der Treppe stand. Sie brüllte: „Warum nur musstest du diese verfluchten Stufen mit Fliesen bekleben? Alle haben dir davon abgeraten! Sie sind viel zu glatt! Wie konntest du nur auf eine so dumme Idee kommen?“ Die Wut verstärkte sich weiter. Zornesröte stieg in ihr Gesicht! „Siehst du, was du gemacht hast? Du hast genau gewusst, dass Emily mit ihren Söckchen darauf ausrutschen könnte! Ich war immer gegen diese Fliesen!“ Stufe für Stufe stampfte sie mit all ihrer Kraft und in unendlicher Rage auf ihren Mann, der noch immer regungslos auf der Treppe stand, zu und wirbelte ihre Arme dabei wild durch die Luft. „Dafür könnte ich dich umbringen!!!“, fuhr sie ihn hysterisch an. Seine Reaktion auf diese furchteinflößende Todesdrohung fiel seltsam gelassen aus. Plötzlich konnte von einer scheinbaren Versteinerung seines Körpers keine Rede mehr sein - im Gegenteil! Er wirkte äußerst mobil! Das lag aber nicht daran, dass er in Vorbereitung auf die erwarteten Handgreiflichkeiten seiner Gattin eine Abwehrhaltung einnahm. Was dann geschehen sollte, konnte die traumatisierte Frau beim besten Willen nicht vorhersehen! Ihr Gatte nutzte die Gunst der Stunde und verpasste seiner Ehefrau einen derart heftigen Tritt, dass diese vor Schmerz laut aufschrie. Ihr Genick brach auf der achten Setzstufe. Aufgrund der unnatürlichen Position ihres Kopfes, die selbst der beste Artist der Welt so nicht folgenlos hätte einnehmen können, war der Fall für ihn erledigt. Zufrieden grinste er und blickte abschätzig auf die beiden leblosen Körper. „Na ja, das lief zwar nicht so, wie ich es geplant habe! Aber tot ist tot!“, gluckste er vor Freude. Emily sollte an diesem Tag um ihr Leben gebracht werden, seine verhasste Ehefrau eigentlich erst ein paar Tage später. Aber genau diese Planänderung besiegelte auch sein Schicksal! Frau Dallker bestand darauf, dass die Kellertür immer zugeschlossen war, damit keine Gefahr für das Kind des Ehepaares bestand. Ihr durchtriebener Mann wusste genau, dass seine Tochter sehr neugierig war. Er wusste, dass das Verbotene für sie einen ganz besonderen Reiz darstellte, weshalb er keine Gelegenheit ausließ, regelmäßig subtil auf die „geheimnisvolle“ Pforte hinzuweisen. Und natürlich wusste er, dass sie die Treppen hinunterfallen und sich schwer verletzen - wenn nicht gar sterben - würde. Er musste nur „versehentlich” vergessen, die Tür zuzumachen und abzuschließen. Ein kleiner Türspalt würde sein eigen Fleisch und Blut vernichten! Eiskalte Berechnung - ohne Zweifel! Während seine Frau und er die Schreie aus dem Keller hörten, befanden sie sich im Wohnzimmer. Das Schauspiel konnte weitergehen! Begonnen hatte es nämlich bereits vor einigen Monaten, als der liebevolle Vater und fürsorgliche Ehemann sein zweites Gesicht bekam. Seine Ehe und seine Tochter standen seinem „wahren“ Glück wie zwei riesige Felsbrocken im Wege. Mit einer neuen Frau, die schon auf ihn wartete, wollte er noch einmal ganz von vorn beginnen. Nach einer Zeit der mustergültig vorgetäuschten Trauer über den Verlust seiner Lieben wäre ein Segeln zu neuen Ufern gesellschaftsfähig gewesen! „Der bemitleidete und trauernde Ehemann findet einen neuen Anker, der ihm wieder Halt gibt“ Was für eine Schlagzeile in der eigenen Biografie! Und das alles ohne Makel - Unterhaltszahlungen für Frau oder Kind? Aber nicht doch! Das muss doch nicht sein! Da darf dann die Moral schon auch einmal über Bord gehen!
Ein ungebetener neuer Anker, den er in seinem Leben fand, zog ihn aber nicht etwa ins Amüsement und in die Gemütlichkeit sondern in die kalte Tiefe - und zwar bis auf den Grund! Die Frage der Kriminalpolizei, warum seine Frau nach dem Sturz der Tochter die Fliesen und nicht die offene Tür bemängelt habe, das konnte er vielleicht noch glaubhaft mit einem Schock erklären. Doch die Aufnahmen der auf die Kellertür gerichteten Minikamera, die seine verstorbene Gattin ohne sein Wissen für zusätzliche, gelegentliche Kontrollen installierte und welche während der Ermittlung gefunden wurde, beendeten die ganze Scharade.
Der elektrische Stuhl wartet noch immer darauf, seine Helfer durch den Körper des Mörders schicken zu dürfen. In seiner Zelle zerbricht Herr Dallker indes beinahe an einer quälenden Ungewissheit. Er weiß nicht, wann das Todesurteil vollstreckt wird. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet eine lange Treppe in den Todestrakt führt.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von lys am 20.10.2025:

Lieber Jens,
diese Geschichte hat mich zutiefst bewegt – so traurig, erschütternd und gleichzeitig fesselnd. Das Ende kam völlig unerwartet und bleibt im Gedächtnis. Wirklich wunderschön und eindrucksvoll geschrieben!
Liebe Grüße
Lys




geschrieben von JensACallert am 20.10.2025:

Liebe Evelinya,

vielen Dank für deine anerkennenden Worte. Es freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat.

Herzliche Grüße

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