Veröffentlicht: 18.10.2025. Rubrik: Unsortiert
Liebe Tante Mally, wie immer nüchtern | Teil 2
[Teil 1 hier: https://www.dsfo.de/fo/viewtopic.php?p=1592402#1592402]
Dann nahm ich mein Fahrrad zu einem Besuch beim überraschten Freund Toni in unserem schwulen Orgienlokal, was ein Missverständnis klärte. Der gleichaltrige Freund Toni war eingeschnappt gewesen, weil er sich von mir behandelt fühlte wie "ein Stück Fleisch". Dabei war es nur ein Scherz gewesen, als ich ihm gesagt hatte, ich wäre nur an seinem Körper interessiert. Das sage ich praktisch jedem. Einmal habe ich es meiner Chefin in der Elektronikfirma mitgeteilt. Über die Äußerung regt sich sonst niemand auf. Ich liebe Improv, das heißt: Theater. Ich muss dazusagen: Mit Toni habe ich nie etwas gehabt außer einer Riesengaude. "Riesengaude" heißt in meiner Stadt: Saufen und Herumalbern, bis vor Lachen der Bauch weh tut oder die Sonne aufgeht. Je nachdem, was früher eintritt.
Ich kehrte nüchtern in das elektronische Tanzlokal NOIR zurück, weil meine schwarzlichtfarbene Eintrittskarte am Unterarm bis sechs Uhr früh gültig war und zehn Euro gekostet hatte.
Zur fortgeschrittenen Stunde im NOIR zeigte sich die heutige Jugend nicht mehr so brav und nüchtern wie nach Beginn der Veranstaltung. Auf Raucherterrasse B bewegten sich meine Tonic-ohne-allem-Flasche und ich durch eine ausgedehnte Wolke aus Marijuana-Aroma. An den Tischen kreisten die Joints. Viele rote Äuglein glänzten im Licht der Halbleiter-Scheinwerfer.
Auf der Bankmauer rund um die Terrasse saßen zwei schneidige Burschen in kurzen Hosen und hellen Hemden, so um die dreißig. Beide staunten gerade gern über die Sehenswürdigkeiten in Bäumen und Gesichtern, wiesen einander auf die spektulärsten Erscheinungen in den Kratzern am Tisch hin als wären sie im Lunapark. Diagnose: Narrische Schwammerl oder LSD.
Als ich die Toilette aufsuchte, kamen mir zwei Türken entgegen, von denen der eine etwas in den Papierkorb warf, das sich während der Betrachtung zum Zeitvertreib am Urinal als abgeschnittener Cocktail-Strohhalm erwies. Diagnose: Kokain, Speed oder Mephedron. Wird alles geschnupft.
Da auf Terrasse B keine Sessel frei waren, setzte ich mich auf einen der wenigen Sitzplätze auf der Mauerbank und drehte eine Zigarette. Ein Pärchen erschien und fragte mit freundlichen Minen nach dem Raum neben mir auf der Mauer. Ich gewährte und fing an zu rauchen.
Am übernächsten Tisch gab es zwei Surfer-artige Männer, die sich abwechselnd ein Sprühfläschchen zuerst ins eine und dann ins andere Nasenloch steckten. Diagnose: Keine Ahnung. Hingehen, aber es gab dort keinen Sitzplatz für mich. Ich rauche nicht gern im Stehen.
Das Pärchen, seit einer Zigarettenlänge neben mir, trank Bier und tratschte und lachte und wirkte vollkommen nüchtern. Die Dame vom Pärchen hatte sich zwischen mich und den Aschenbecher gesetzt. "Nicht erschrecken", sagte ich, als ich hinter ihrem Rücken mit der Zigarette nach dem Aschenbecher langte.
"Was?" Sehr fröhlich, die Frau.
"Ach so, mach nur", sagte sie, als sie verstand, "aber mir ist lieber der Aschenbecher bleibt da. Wir brauchen den Aschenbecher auch. Mach', was du willst hinter meinem Rücken."
Ja, mach, was du willst hinter meine Rücken, dann verklage ich dich am Montag. Ich begann mich zu fürchten, denn Damen sollte man im 21. Jahrhundert als Mann eher meiden. Sonst bekommt man es mit einer Staatsanwältin zu tun. Alleine für Blumenkaufen für die unbekannte Angebetete haben Männer jeden Alters sechs Monate bekommen in meiner Großstadt. Für einen kurzen Flirt im Büro fünf Jahre. Ich stand mit einem Bein in Haft.
Eine weitere Zigarette musste her, aber mein Tabak war verschwunden.
"Bitte steh' mal kurz auf", sagte ich zur Dame. "Ich will dir nicht unter den Rock greifen." Zehn Jahre. Irgendwo unter dem Saum war mein Tabak. "Du sitzt auf meinen Tschick."
Kicherkicher und aufgestanden und - voila - mein Tabak.
"Danke", sagte ich, "dass ich nicht ins Gefängnis muss wegen Sexualattentat."
Kicherkicher, weil ihr der Ernst für die Lage fehlte.
Ich wollte mich auf einen Sessel setzen für den Luxus einer Rückenlehne. Ich brauche eine Rückenlehne zum Rauchen. Und da erhob sich schon eine erschöpfte Runde von ihren Plätzen. Nichts wie hin.
Ich fiel erleichtert in meinen neuen Sessel und nahm Zigarettenpapier, Filter und Tabak auf den Schoß. Auf den übernächsten Sessel setzte sich eine Frau mit langen dunklen Haaren, die unter ihrem Jeans-Schlapphut hervorgequollen kamen. Die Dame trug sackartige Kleidung und Espandrilles und blickte vorgebeugt mit Flasche in beiden Händen auf die Mitmenschen auf der Terrasse, die sich für die neuen Sitzplätze seltsamerweise nicht interssierten.
Für die einsame Dame interessierte sich auch niemand, obwohl sie sehr jung wirkte, um die zwanzig, wenn überhaupt. Ins NOIR darf man erst ab achtzehn. Keine Ausnahmen. Vermutlich wollte keiner der anwesenden Männer in einem Gerichtsdrama auftreten. Ich war gespannt, mit welchen Mitmenschen ich es in Kürze auf den umstehenden freien Sesseln zu tun bekommen würde. Hoffentlich nur Männer. Und da waren sie auch schon.
Beide Männer waren um die dreißig; ein Dicker und ein Dünner, ein Blonder und ein Schwarzhaariger. Der Dicke trug eine weiße kurze Hosen und ein Hawaiihemd. Der Dünne war mit Jeans und mit einem orangefarbenen Netzlaibchen erschienen, darüber offen ein weißes Hemd. Bierflaschen. Hawaii und Netzi setzten sich ein Stück weg von mir in den Sesselkreis.
Die einsame Schlapphutträgerin starrte in meine Richtung. Ich bemerkte, dass von ihrem Katzengesicht und großen Mädchenaugen ein übernatürlicher Liebreiz ausging, zusammen mit engelsgleicher, hypnotischer Schönheit. Alles klar. Diagnose: Ecstasy. Nur Ecstasy hat diese besondere Wirkung: Verzaubert nicht nur den eigenen Geist und Körper, sondern auch jeden und jede, mit denen man es zu tun bekommt. Ecstasy ist das beste Kosmetikprodukt: Extremes Doping für Charisma, Ausstrahlung und Attraktivität. Die Wirkung ist nur paranormal zu erklären. Sogar Katzen beten Berauschte regelrecht an, mit samtiger, schnurrender Zuwendung. Deswegen haben sie Ecstasy verboten: Keine andere Droge hat diesen unheimlichen Effekt auf die Umgebung, die nichts nehmen muss, nicht einmal wissen, dass es Ecstasy überhaupt gibt. Im gegebenen Fall war dieses Umfeld ich. Zum Glück kannte ich mich aus. Für solche Kenntnisse waren meine begüterten alten Freunde eine große Hilfe. Begüterte Männer sind vor Anklagen durch Damen besonders gefährdet.
Als ich nach Fertigstellung der Zigarette wieder hinsah, drehte das gedopte Geschöpf ihren Sessel um ein, zwei Stunden in meine Richtung -- von ihren 12 Uhr aus gesehen. Sich als Mann geschmeichelt zu fühlen, ist in dieser Situation unangebracht. Ecstasy wirkt in beide Richtungen: Der Rausch erzeugt auch unverbrüchliches Mitgefühl für und Vertrautheit mit der gesamten Menschheit. Jegliche Form von Nähe, Zusammensein oder Intimität wird zum unwiderstehlichen Angebot -- alleine durch die übersteigerte Empfindsamkeit auf der Haut. Mit Ecstasy kann man andere Menschen so etwas wie schöntrinken, aber das Ergebnis ist wesentlich ausgeprägter als bei Alkohol. Es passierte in jenem Moment im Rausch der Schlapphutträgerin. Mit meinem Aussehen oder Charakter hatte die Zuwendung um zwei Stunden nichts zu tun. Ich war bloß zur falschen Zeit am falschen Ort. In der Kühle der Nacht trat mir der Angstschweiß auf die Stirn. Euer Ehren, die Anklägerin war schon vor der Begegnung vollkommen high. Wahrscheinlich hatte ich mich durch Hinschauen bereits in irgendeiner Form strafbar gemacht.
Ich stand ruckartig auf und setzte mich neben die zwei Männer, Hawaii und Netzi, die sich angeregt unterhielten. "Ich hoff', ich stör' nicht", sagte ich aufgeräumt und lehnte mich kurz an den Dicken. "Worüber redet ihr? Darf ich was helfen?"
"Wir reden übers Büro", sagte Hawaii. "Bei uns gibts eine Intrige und wir wollen was machen."
"Was machen?", fragte ich. "Mitmachen? Ich kann euch Tipps geben!" Das war frei erfunden. Zum Glück kann ich sprechen ohne zu denken. "Improv" kommt von "Improvisieren".
Die Schlapphutträgerin wechselte ihren Sitzplatz auf den Sessel genau gegenüber von mir. Ich wollte nicht unhöflich sein oder dem Mädchen den Rausch ruinieren, aber mir ging das zu weit. Und ich wollte nicht unhöflich sein und dem Hawaii und dem Netzi einfach verschwinden aus der Konversation, die ICH gerade angefangen hatte.
Ich stand auf und setzte mich neben den anderen Mann. "Was meinst du dazu? Mein Name ist Codec. Nett, euch kennen zu lernen, aber ich muss gleich gehen."
"Was hast du vor? Klo?"
Das war die perfekte Ausrede. "Genau. Dabei habe ich gar nicht so viel gesoffen, wie ich pinkeln muss, ha, ha, ha!"
Im selben Moment erschien jemand hinter mir. Noch ein überflüssiges Mädchen. Anscheinend kannte sie meine frischgebackenen Mitmenschen.
Sie war in den Zwanzigern und wirkte sehr elegant im schwarzen trägerlosen Minikleid. Gut kombiniert mit hohen Stahlarbeiterstiefeln mit Spangen. Hochgesteckte schwarze Haare mit lockigen Strähnchen im Gesicht, Kreolen. Kreolen waren wieder da? Auch aus dem Gesicht dieser Frau kam bildschöne künstliche Abstrahlung. Auch diese Frau wollte gerade die gesamte Menschheit in die Arme schließen. Und nach dem Rausch anklagen. Ach. Du. Schreck.
Die Dame setzte sich auf den Sessel neben mir und schmiegte ihre Flasche an die Wange. "Wo ist Baa-habs?" Sie lehnte sich vor mir vorbei zum Dünnen.
Mein Sitznachbar antwortete statt ihm. "Babs ist raus, kommt aber wieder." Er war mit der Anfertigung einer Marijuana-Zigarette beschäftigt.
Ich krallte hastig meine Rauchartikel zusammen und beugte mich leicht vor, um den Kram in meine Gesäßtaschen zu stopfen. Leider ging das Feuerzeug in die falsche -- die mit dem Loch. Das Feuerzeug fiel durch.
"Oh, bleib' ruhig sitzen", sagte die Frau und legte ihre Hand auf meinen Unterarm. Vor meinem geistigen Auge erschienen Gitterstäbe. Ecstasy gehört verboten -- ach so, haben sie ja schon...
Die Dame fasste nach meinem Arm und zeichnete mit der anderen Hand ganz langsam eine Linie auf der Haut. "Was hast du da?", hauchte sie und hielt mir ihre Augen als Herausforderung ins erschrockene Gesicht. Graue Katzenaugen. Pupillen so groß wie Suppenteller. Diagnose: Ging gerade los.
So belemmert wie möglich war meine Antwort. "Ich glaub', das ist eine Vene."
Ich stand noch einmal auf, um wieder auf die andere Seite der beiden Männer zu setzen. Zum Glück begnügte sich die Schlapphutträgerin damit, mich anzustarren, während einem eigentümlich-mineralenen "Bitte-hab-mich-lieb"-Ausdruck im Gesicht. Irgendein armer Teufel würde heute abend pickenbleiben und sich schnurstracks ins Gefängnis flirten - zehn Jahre - oder streicheln - fünfzehn Jahre - oder küssen - lebenslänglich - aber ganz sicher nicht ich. Meine begüterten alten Freunde waren mir eine große Hilfe -- als abschreckende Beispiele.
"Ich muss wieder rein zur Musik", erklärte ich meinem neuen alten Sitznachbarn und stand wieder auf.
"Was ist denn mit dir los?" fragte der neue alte Sitznachbar. "Bleib doch mal wo sitzen." Der andere befeuchtete das Zigarettenpapier. "Was hast du genommen? Meth? Ist noch was da?"
Das war die perfekte Ausrede. "Fast erraten: Unendliche Dichte auf Tina!", log ich. "Daher brauche ich wieder Musik."
"Alter, entspann dich erstmal mit uns....", sagte der Dicke und reichte mir die frische Marijuana-Zigarette vor die Nase.
"Wie nett!", trällerte ich. "Aber ich glaube, ich bin ausreichend fertig für heute. Ich geh' wieder zur Musik... viel Spaß noch... schönes Wochenende noch..."
"Mach dich nicht deppert... hier ist dein Feuerzeug..." Ich dankte Hawaii mit einem artigen Knicks und trat einen Schritt zurück.
Verabschiedung von der Frau nicht vergessen, sonst gab es womöglich Ärger. "Schönen Abend, empfehle mich, Ciaotschi!" Wackelhändchen und ab. Ab nach Hause.
Auf der Treppe betrachtete ich das einsame Antlitz unter dem Schlapphut und erblickte die unbezahlbare Majestät eines Moleküls mit dem technischen Namen Methylendioxy-N-methylamphetamin. Faszinierend, dass es ein Molekül mit so einem Zauber überhaupt geben konnte. Und DAS haben sie verboten. Und die Minne haben sie kriminalisiert. Minne ist das beste Improv. Scheiß-EU.
Am Weg zu meinem Fahrrad irgendwo neben dem Gebüsch kramte ich das Blinklicht aus der Hosentasche für die Schlüssel und Karten. Ich stapfte durch das Getümmel bei der Allee und fühlte mich sehr müde. Zwanzig Euro für einen überflüssigen Abend. Drei Uhr früh. Stundenlang Improv und präzise niemanden kennengelernt. Strafandrohungen haben alles ruiniert. Kann nur mir passieren.

