Veröffentlicht: 23.10.2025. Rubrik: Menschliches
Der leere Hut
Der Blick in seinen Hut war ernüchternd. Wieder einmal. Die Tage längst vorbei, an denen er mit Betteln sein Überleben sichern konnte. Seit die Bettelmafia die Stadt fest im Griff hatte und die besten Plätze für sich beanspruchte, blieb ihm meist nur noch die Wohlfahrt. Oft fragte er sich schon, warum es den Behörden einfach nicht gelang, die Straßen von diesen Verbrechen zu säubern, die andere Menschen zum Betteln zwangen, um selbst im Luxus zu leben.
Insgeheim kannte er die Antworten. Es gab einfach zu viele Verbrecher und korrupte Machtlenker. Eine Gesellschaft, die sich lieber in der virtuellen Bubble verlor, anstatt die Augen aufzumachen und zu schauen, was wirklich vor sich ging. Das Wohlstandsfett hatte sie inzwischen vollkommen gleichgültig gemacht. Sie würden es irgendwann bereuen, so viel stand für ihn fest.
Er hörte Schritte von harten Schuhsohlen. Ein Geräusch, das man in dieser Gegend nur selten vernahm. Gehörten sie doch zumeist Schuhen, die für die Bewohner dieses Viertels unerschwinglich waren. Es war der Klang des Geldes, der an diesen Schuhsohlen klebte. Ein Statussymbol, das jedem Träger Gehör verschaffte, wenn auch noch der passende Anzug kombiniert wurde. Bescheidenheit fand hier keinen Platz und Großzügigkeit pure Gewissenserleichterung, aber nie Nächstenliebe.
Nur unter Schmerzen wendete er seinen Kopf, das Rheuma hatte seine Klauen längst in seinen Körper geschlagen. Das Leben auf der Straße war oft ein kaltes, für die Seele ein hartes. Doch seine Neugier ließ ihn den Schmerz besiegen. Er wollte unbedingt dem Gewinner dieses Systems aus Ausbeutung und noch am Leben lassen ins Gesicht schauen. Wenn dieser wahrscheinlich auch, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, an ihm vorbeischreiten wird.
Doch er sollte sich täuschen, denn der Mann, der sich ihm näherte, nahm ihn nicht nur bewusst wahr, sondern schenkte ihm auch noch ein Lächeln. Ein Lächeln aus warmen, gütigen Augen. „Wie geht es Dir, Karl?“ Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als der Fremde ihn auch noch bei seinem Namen ansprach und sich in die Hocke begab, um ihm die Hand zu reichen.
Verdutzt ergriff er die ihm angebotene Hand. „Woher kennt Ihr meinen Namen?“, fragte er, als er sich wieder gefasst hatte.
„Erkennst Du mich denn nicht?“
„Sollte ich denn?“
„Ich bin der, Ferdinand?“
„Der Ferdi? Der Junge von der Maria und dem Joseph, die früher neben mir gewohnt haben?“
„Genau der, Karl!“
„Wow, du scheinst es weit gebracht zu haben, im Gegensatz zu mir.“
„Ja, das habe ich und nur dank Dir. Deshalb bin ich auch hier!“
„Wegen mir?“, fragte er ungläubig.
„Ja, Karl, es waren deine klugen Ratschläge, die mir im Leben oft den richtigen Weg wiesen, und es betrübt mich, zu sehen, dass das Schicksal so übel mit dir mitgespielt hat, während es mich stets nur begünstigte.“
„Ja, das Schicksal, Ferdi! Es ist halt nicht wahr, dass jeder nur seines Glückes Schmied ist.“
„So ist es, Karl, und deshalb möchte ich das Schicksal ausgleichen.“
„Ausgleichen?“
„Ja, mit meinem Zuviel an Glück dein Zuviel an Pech ausgleichen.“
„Bist du dir sicher, dass du nicht nur dein Gewissen erleichtern möchtest, Ferdi?“
„Ja, da bin ich mir sicher, Karl, denn dank dir ist mir immer bewusst, dass mein Reichtum auf der Ausbeutung anderer beruht. Deshalb habe ich angefangen, etwas zurückzugeben.“
„Das ist doch paradox, Junge. Dann hättest du diesen Weg als Ausbeuter doch erst gar nicht einschlagen müssen.“
„Da hast Du Recht, Karl. Aber wie hast Du früher immer gesagt: Der Mensch ist voll von Fehlern und obwohl er das weiß, ist er oft nicht in der Lage, diese zu vermeiden. Sicher wäre es richtiger gewesen, diesen Weg nicht einzuschlagen, aber jetzt bleibt mir halt nichts anderes, als zu versuchen, ihn wieder gutzumachen, auch wenn ich jetzt schon weiß, dass es mir nie ganz gelingen wird! Komm, steh auf und lass uns etwas essen gehen und vielleicht hast Du ja Lust, mich auf meinem Weg zu begleiten.“
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