Veröffentlicht: 15.11.2025. Rubrik: Nachdenkliches
was von ihr blieb
Das kleine Blatt treibt hilflos auf dem Boden. Alleine und müde. Müde vom Alleinsein. Bis ein abgenutzter, brauner Stiefel dem Leid ein Ende bereitet. Das Blatt knirscht, als es von der Sohle begraben wird. Der Schuh gehört einer jungen Dame, die sich suchend umschaut. Ihre Haare folgen ihrem Beispiel und wirbeln mit dem Kopf herum auf der Suche nach mir. Doch mich wird sie nicht finden, mich wird nie jemand finden, denn ich bin wie das Blatt. Ich bin alleine, doch ich bin nicht müde. Der suchende Blick eilt weiter vorbei an den Menschen, die um uns herum strömen. Das Gekreische der Kinderstimmen und das Geräusch rollender Koffer vereinen sich zu einem einzigen großen Chaos. Langsam zieht sie ein altes Nokia aus der Tasche, auf dem sie nun hektisch herumzuklicken beginnt. Ich weiß, was sie tippt. Ich weiß, an wen sie tippt. Ich weiß, warum sie tippt. Doch das bleibt in mir, tief in meiner alleinigen Seele, bis meine Seele nicht mehr alleine ist. Ein lautes Schnauben lässt mich aufsehen. Julia hat inzwischen wohl auch verstanden, dass ich ihr nicht mehr antworten werde. Verzweifelt vergräbt sie ihre Finger in den knotigen Haaren. Dann, ganz langsam, löst sich eine einzelne Träne aus den tiefblauen Augen, kullert langsam und alleine den langen Weg ihre Wange herunter, bis sie von einer verdreckten Hand weggewischt wird. Ich spüre, dass sich auch bei mir eine einzelne Träne löst. Der Träne widerfährt dasselbe Schicksal wie ihresgleichen. Als ich wieder aufschaue, ist Julia unauffindbar. Das Einzige, was von ihr geblieben ist, ist das platte Blatt am Boden der hektischen Halle. Nun bin ich wieder allein. Denn ich bin wie das kleine Blatt.





