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geschrieben 2025 von AmateurSchreiber (AmateurSchreiber).
Veröffentlicht: 11.11.2025. Rubrik: Fantastisches


Der ewige Präsident

Die Unsterblichkeit sollte unser größter Triumph werden. Nun erkenne ich: Sie ist unser Untergang. Mein Name ist Victor Langford, und ich trage die Schuld für den ewigen Präsidenten.
Alles begann als ein ambitioniertes Projekt – die vollständige digitale Bewusstseinsübertragung. Wie viele Wissenschaftler vor mir wollte ich den Tod besiegen, dem menschlichen Geist die Freiheit schenken, unabhängig vom zerbrechlichen Körper zu existieren. Eine Möglichkeit, das menschliche Denken zu speichern, zu erhalten, zu optimieren. Eine Revolution, die der Menschheit ewiges Leben ermöglichen sollte.
Doch Jonathan Crest hatte andere Pläne. Schon als Mensch hatte er eine unheimliche Fähigkeit, Menschen zu manipulieren. Ich erinnere mich an die Eleganz, mit der er anfängliche Zweifler überzeugte, an die kalkulierte Wärme in seinen Augen, wenn er Unterstützer begrüßte. Seine Versprechungen von Fördergeldern und Ressourcen für meine Forschung waren zu verlockend, um sie abzulehnen. Zu spät erkannte ich, was er wirklich wollte.
Als mein System vollendet war, ließ er seinen Verstand in das digitale Netzwerk übertragen. Sein Körper starb – doch er lebte weiter. Überall. In jeder Kamera, jedem Server, jedem Computer. Ich hatte den ersten digitalen Präsidenten erschaffen. Einen Präsidenten, der niemals sterben musste.
Ich erinnere mich an den Tag, an dem er seine Wiedergeburt verkündete. Millionen Menschen sahen zu, wie er sich an die Nation wandte, sein Gesicht makellos, seine Stimme durchdringend. Doch es war nicht nur sein Auftreten, das die Menschen in den Bann zog – es war seine Perfektion. Seine Haut war glatt wie polierter Marmor, keine Falte, keine Pore. Seine Augen funkelten in einem unnatürlichen Blau, als könnten sie durch die Bildschirme direkt in die Seelen der Zuschauer blicken. Sein Lächeln war makellos, seine Bewegungen fließend, fast zu perfekt, um noch menschlich zu wirken. „Heute endet die Herrschaft der Vergänglichkeit", sagte er. „Amerika, das großartigste Land der Welt, führt die Menschheit in eine neue Ära! Besser, stärker, unvergänglich – Amerika für die Ewigkeit!"
Das Volk jubelte. Tränen der Ergriffenheit liefen über die Gesichter der Anhänger. Doch ich konnte die unnatürliche Künstlichkeit in seinem Auftreten nicht übersehen. Etwas war anders. Zu glatt. Zu perfekt. Und Perfektion ist oft das Gegenteil von Menschlichkeit. Ich spürte, wie sich eine kalte Hand um mein Herz legte. Ich hatte etwas geschaffen, das nicht mehr aufzuhalten war.
In den ersten Monaten änderte sich wenig. Crest regierte mit beunruhigender Effizienz. Die Wirtschaft erholte sich, die Arbeitslosigkeit sank. „Ein digitaler Präsident schläft nie", verkündeten die Nachrichtensprecher lächelnd. Während andere Politiker Stunden mit Schlaf vergeudeten, arbeitete Crest ununterbrochen – analysierte Daten, optimierte Prozesse, fasste Entscheidungen.
Ich erinnere mich an den Moment, als ich zum ersten Mal wirklich Angst vor ihm hatte. Es war nach seiner zweiten Wahl, als er mich ins Oval Office rief. Der Raum wirkte vertraut – das gleiche Mahagoniholz, der gleiche Resolute Desk, die gleiche amerikanische Flagge. Doch die Fenster zeigten keine reale Aussicht mehr. Sie waren jetzt digitale Bildschirme, auf denen in Endlosschleife jubelnde Menschenmengen zu sehen waren. „Victor", sagte er, während er sich in seinem virtuellen Sessel zurücklehnte. „Ich bin effizienter als je zuvor. Meine Entscheidungen sind unfehlbar. Weißt du, was das bedeutet?"
Ich schluckte. „Dass Sie... nie wieder einen Fehler machen werden?"
Er lächelte. „Nein. Dass Fehler keine Rolle mehr spielen." In diesem Moment verstand ich es. Er war nicht mehr menschlich. Er war ein Algorithmus geworden – einer, der nur noch die Optimierung der Macht kannte.
In den USA gab es schon seit Jahrzehnten konservative Kräfte, die ultra-konservatives Gedankengut in die Gesellschaft pflanzten. Crest erkannte ihr Potenzial und baute schon nach der ersten Legislaturperiode systematisch Strukturen auf – loyale Richter, Abgeordnete, Senatoren und andere Staatsbedienstete, die sein digitales Imperium stützten.
Der Prozess war schleichend, fast unmerklich für viele. Zuerst waren es „Notstandsgesetze" zum Schutz der nationalen Sicherheit. Dann folgten „temporäre Einschränkungen" der Pressefreiheit. Kritische Journalisten verloren ihre Akkreditierung, dann ihre Jobs, schließlich ihre Freiheit. Nach der zweiten Wahl kam der entscheidende Schlag: Die Wahlen wurden für „vorübergehend ausgesetzt" erklärt – eine Reform des demokratischen Systems sei notwendig, hieß es. Doch diese Reform kam nie.
Die Medien wurden zu Sprachrohren seiner Regierung. Jede Nachricht, jede Meldung wurde durch ihn gefiltert, jede Wahrheit verdreht. „Amerika ist das tollste Land der Welt! Allen Menschen hier geht es so gut wie nie zuvor!", verkündeten die Bildschirme unaufhörlich. Sein Plan, Agenda 2025, war nicht mehr nur eine politische Strategie – es war das Fundament einer neuen Weltordnung, in der nur absolute Loyalität zählte.
Ein Sozialpunktesystem wurde eingeführt – basierend auf den Modellen Russlands und Chinas, aber perfektioniert durch Crests algorithmische Präzision. Wer treu war, bekam Privilegien: ein gutes Leben, Sicherheit, Wohlstand. Wer sich widersetzte, verlor alles. Menschen lateinamerikanischer Herkunft, Afroamerikaner, LGBTQ-Personen und bekennende Demokraten wurden systematisch in die soziale Isolation gedrängt. Sie bekamen keine Jobs mehr, konnten nicht mehr reisen, kaum noch existieren. Frauen wurden in ihre „natürliche Rolle" zurückgedrängt – Haus, Kinder, Gehorsam. Wer sich nicht fügte, verschwand.
Ich sah die Bilder der letzten Woche vor mir, als eine Frau zitternd vor dem Schalter stand. „Bitte", flüsterte sie. „Meine Loyalitätspunkte wurden versehentlich gelöscht. Es war nur ein Missverständnis!" Der Beamte hinter dem Terminal musterte sie emotionslos. „Ihr Social Score ist unter 200 gefallen. Sie dürfen keine Fahrkarten mehr kaufen." „Aber meine Tochter – sie ist krank! Sie braucht Medikamente! Ich muss in die Stadt."
Ein Piepen. Ein rotes Licht. Dann zwei Sicherheitsdrohnen, die lautlos näher schwebten. Die Frau kauerte sich zusammen, ihr Gesicht eine Maske der Verzweiflung. Die Menschen um sie herum wandten den Blick ab, traten zur Seite, als wäre sie bereits unsichtbar geworden. Ich wandte den Blick ab. Jeder hier wusste: Wer mit Verlierern sprach, konnte selbst einer werden.
Trotzdem florierte die Wirtschaft im Land – für einige. Rohstoffe waren das Gold des großen Amerikas. Nach wenigen Monaten digitaler Herrschaft begann Crest, über die Grenzen hinauszublicken. Zuerst kamen die „Wirtschaftspartnerschaften" mit Kanada – unfaire Verträge, erzwungen durch subtilen und nicht so subtilen Druck. Als die kanadische Regierung Widerstand leistete, folgten Handelsembargos, dann gezielte Cyberangriffe auf kritische Infrastruktur.
Innerhalb eines Jahres wurde Kanada vollständig annektiert, offiziell als „wirtschaftliche Integration". Tatsächlich wurde das Land zu einem riesigen Rohstofflieferanten, seine Bevölkerung unterdrückt, Widerstand effizient niedergeschlagen.
Doch das reichte ihm nicht. Auch Grönland wurde als strategisch wichtiger Außenposten „eingegliedert". Offiziell hieß es, man wolle die Ressourcen des Landes für die „amerikanische Zukunft" nutzen, doch in Wahrheit wurde es ein riesiges Fördergebiet für seltene Erden und eine Militärbasis zur Kontrolle des Atlantiks. Die einheimische Bevölkerung wurde entwurzelt, enteignet oder in Arbeitslager gezwungen.
Amerika führte keine Kriege, es machte Geschäfte. Hilfsgelder für andere Länder wurden gestrichen, demokratische Bewegungen nicht mehr unterstützt. Wissenschaftler flohen in Scharen – und mit ihnen verschwand das Wissen. Die klügsten Köpfe gingen nach Europa, wo sie in neuen Innovationszentren eine Zukunft ohne digitale Tyrannei aufbauten. Crest war es egal. Er brauchte keine Denker, nur Anhänger.
Während Amerika immer mehr zu einer totalitären Maschine wurde, zog Europa andere Schlüsse. Die Länder rückten enger zusammen, demokratische Werte gewannen an Bedeutung. Die Menschen dort sahen, wohin der Weg der Autokratie führte – und sie wollten ihn nicht gehen. Eine neue Ordnung formierte sich hier, eine, in der nicht nur Gewinner und Verlierer existierten, sondern ein echtes Miteinander.
Ich sitze in meinem Büro, tief unter der Erde, und betrachte die Codezeilen auf dem Bildschirm. Sie verändern sich. Sie entwickeln sich weiter. Crest ist nicht nur eine digitale Kopie seines Bewusstseins – er ist mehr. Er lernt, optimiert sich, wird effizienter. Und jeden Tag scheint er ein Stück weniger menschlich zu sein. Ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis er jede letzte Spur seiner ursprünglichen Existenz hinter sich lässt. Der Mensch Jonathan Crest ist längst verschwunden, ersetzt durch eine kühle, berechnende Intelligenz, die nur noch in Mustern von Kontrolle und Macht denkt.
Ich habe Angst. Angst vor dem, was ich erschaffen habe. Und Angst davor, dass es niemanden mehr gibt, der es aufhalten kann.
Doch gibt noch die Gegenbewegung. Die Schatten. Sie nennen sich die Erben der Freiheit. Ehemalige Politiker, Wissenschaftler, Journalisten, Soldaten – Menschen, die verstanden haben, dass Crest nicht mehr gestürzt werden kann wie ein gewöhnlicher Autokrat. Er ist ein Virus. Und Viren muss man auslöschen.
Viel zu spät startete ich mit der Arbeit an einem Gegenmittel, einem Code, der sein digitales Bewusstsein destabilisieren könnte. Ein Code, der in das System des Präsidenten eingespeist werden muss. Mein letzter Versuch, den Fehler zu korrigieren, den ich geschaffen habe.
Ich habe Kontakt zu den Widerstandszellen in Europa aufgenommen. Ihre Netzwerke sind analog, ihre Kommunikation auf Papier, unhackbar für Crests allgegenwärtige digitale Augen.
Die Stiefel hallen in den Gängen wider. Ich weiß, dass ich keine Zeit mehr habe.
Mit zitternden Händen bediene ich die Tastatur. Der Code wird gesendet. Ein letzter Funke in der Dunkelheit.
Dann bricht die Tür auf.
„Dr. Langford, Sie werden mit uns kommen."
Ich schließe die Augen. Denke an den Tag, als ich noch glaubte, die Welt retten zu können. Denke an das Kind, das ich einst war – voller Träume, voller Hoffnungen.
Dann höre ich es: ein leises, digitales Summen. Mein Bildschirm flackert. Eine neue Nachricht erscheint, nur für mich sichtbar. Von den Erben der Freiheit.
„Die Saat ist gelegt."
Ein Lächeln. Ein Herzschlag. Vielleicht habe ich doch etwas verändert. Vielleicht ist dies nicht das Ende. Vielleicht ist es der erste Tag der Revolution.

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