geschrieben 2022 von Andreas Mettler (Metti).
Veröffentlicht: 05.01.2022. Rubrik: Fantastisches
Luzide Träume
Die erste Nacht
Ich hatte von dieser Welt noch nicht viel gesehen, als ich mir meines Traumes bewusst wurde. Aber das sollte sich jetzt ändern. Zwei schief gewachsene Nadelbäume spendeten mir etwas Schatten. Der Boden war mit Moos bewachsen, ein warmer und weicher Untergrund für meine offenbar nackten Füße. Vor mir die Schlucht mit einer aus Seilen geknüpften Hängebrücke. Auf der anderen Seite des Abgrundes ein stolzes Bergmassiv in rötlicher Farbe. Die Rocky Mountains. Warum auch nicht? Wasserfälle stürzten von allen Seiten in die Abgründe hinab.
Die Hängebrücke ließ ich links hängen. Ich brauchte sie nicht. Ein weiter Sprung bis zum gegenüberliegenden Felsen (oder war es schon ein kurzer Flug?) und ich krallte mich mit nur einer Hand in das griffige Massiv. Die Gischt der Wassermassen tänzelte auf meiner Haut. Wie lange konnte ich in dieser Position verharren? Wann würde sich mein erwachsenes Ich melden, um mir zu sagen, dass auch ein Klartraum gewissen Regeln folgen sollte? Ich ignorierte den Gedanken und trieb mein Spiel weiter auf die Spitze. Ich löste den festen Griff meiner Hand und verlagerte das Gewicht auf die Fingerspitzen. Völlig entspannt und leicht wie eine Bienenelfe trotzte ich allen Erkenntnissen Isaac Newtons.
Und dann ließ ich mich fallen. In Rückenlage über den Abgrund schwebend, mit sanften Schwimmbewegungen blickte ich hinauf in die Wolken. Schwerelos treibend atmete ich die frische Bergluft ein. Eine Drehung und ich wurde zum fliegenden Brustschwimmer. Unter mir die zu einem reißenden Fluss zusammenlaufenden Sturzbäche und Rinnsale, ein funkelndes Spiel von Licht und Bewegung.
Eine Frage der Technik
Luzides Träumen lässt sich üben. Es gibt hierfür verschiedene Techniken. Ich gehe folgendermaßen vor: „Bin ich wach oder träume ich?“ – Eine Frage, die ich mir im Verlauf des Tages immer wieder stelle. Ich mache diesen Gedanken zu einer Gewohnheit. Und diese Routine setzt sich dann auch in meinen Träumen fort. Stell dir vor, du befindest dich mitten in einem Traum und denkst darüber nach, ob das vielleicht ein Traum sein könnte. Und du beantwortest die Frage mit „ja“!
Die zweite Nacht
Eine trubelige Sammlung von Menschen. Vielleicht ein Jahrmarkt? Es wäre doch interessant, hier einen alten Mentor zu finden, der mir Antworten auf mein Leben geben kann. Mein Alltag in der Tretmühle des Berufs. Keine erfüllende Arbeit und mein Chef ist ein echt fieser Kerl. Vielleicht steckt ein Künstler in mir und ich verschwende meine Talente? Wie wäre es, nochmals ein Risiko zu wagen? Meine wahre Berufung finden, bevor ich vollends alt und grau bin. Wenn ein luzider Traum die Verbindung zu meinem Unbewussten ist, dann sollte ich mir jetzt und hier eine Antwort holen.
„Hey Du! Gibt es hier auch einen Wahrsager?“, fragte ich den jungen Typen im Kapuzenshirt.
„Nieeeeeeag. Eeeeeeeh. Aaaaaaaaaaeeech.“
„Was soll das heißen? Sprich mit mir!“
„Geeeeeeaaaargh. Blblblblblbl.“
Offenbar ein Statist ohne Text. Ich musste mich selbst auf den Weg machen.
Was hatte diese lange Warteschlange zu bedeuten? Ein Achterbahnzug donnerte an mir vorbei. Meine Blicke folgten dem Aufbau der Schienen. Ein steiler Aufzug und ein ebensolcher Absturz. Fuhr der Wagen etwa auf dem Kopf? Kreidebleich und desorientiert hangelten sich die Aussteigenden aus dem Konstrukt. So eine Achterbahn hatte ich noch nie gesehen. Das konnte ich mir nicht entgehen lassen. Wonach hatte ich vorher eigentlich gesucht? Egal, was immer es war, es konnte warten.
Die Balance
Die große Herausforderung beim luziden Träumen liegt darin, die Balance zwischen Bewusstsein und Traum zu halten. Lasse ich mich von meinen Träumen treiben, so verliere ich die Kontrolle. Lege ich den Traum an die kurze Leine, dann finde ich mich bald schon wachliegend in meinem Bett wieder.
Die dritte Nacht
Für einen erfahrenen Einbrecher wie mich war es eine leichte Übung, das gekippte Schlafzimmerfenster auszuhebeln. Leise und geschickt stand ich kurze Zeit später vor dem Bett. Und da schnarchte er, die Füße plump aus der Bettdecke gestreckt: Mein Chef.
Ich zog meinen linken Schuh aus und nahm den stinkenden Socken in die Faust. Erst kitzelte ich den alten Mann damit an den Füßen, anschließend tänzelte der Socken um seine Nase herum. Sollte er den Schweiß seiner Mitarbeiter doch auch mal zu riechen bekommen. Er zog den Kopf etwas zur Seite. Da packte es mich und ich stopfte ihm den alten Socken vollständig in die Fresse.
Hustend spuckte er den Socken aus. Er öffnete die Augen. Kurzerhand zog ich seine Nachttischlampe aus der Steckdose und verpasste damit seiner Schläfe einen Frontalzusammenstoß. Mein Chef sah mich mit entsetzten Blicken an.
Epilog
Meinen Job hatte ich natürlich verloren. Aber hatte ich mir das nicht gewünscht? Mein Unbewusstes hatte mir diese Frage nie beantwortet. Zusätzlich gab es noch eine Strafanzeige wegen Hausfriedensbruch und eine weitere wegen Körperverletzung. Die darauffolgenden Nächte waren sehr unruhig und an Klarträume war in nächster Zeit nicht mehr zu denken.