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3xhab ich gern gelesen
geschrieben 2005 von Christelle (Christelle).
Veröffentlicht: 08.08.2022. Rubrik: Persönliches


Eine Radreise durch die ungarische Tiefebene

Diese Reise haben wir im Jahr 2005 durchgeführt. Auch wenn mir die derzeitige Regierung nicht gefällt, möchte ich mit dem Zitat aus der ungarischen Speisekarte beginnen, denn genauso haben wir das ungarische Volk kennen- und lieben gelernt. Einige historische Einzelheiten in diesem Bericht habe ich Wikipedia entnommen.


„Oh Ungarn!
Gibt’s noch ein Volk, das so schwärmen, verwöhnen,
streicheln und sättigen kann als Deines, wenn es in
gastfreundlicher Stimmung ist?“

(aus einer ungarischen Speisekarte)

Dieses Zitat aus einer ungarischen Speisekarte fasst in Worte, was wir empfinden, wenn wir an die hilfsbereiten und freundlichen Ungarn denken, die wir auf unserer Radreise im September/Oktober 2005 durch die ungarische Tiefebene kennen gelernt haben.
Wir, das sind Wolfgang und Marion, Horst-Werner und Ulla, Werner und ich.

Horst-Werner hat die Tour geplant und auch die erste Übernachtung im Hotel Gastland in Szigetszentmiklos, etwas südlich von Budapest, gebucht. Was er nicht wusste: Das Hotel Gastland ist ein Motel direkt an der Autobahnzufahrt, also schwierig, von dort auf die Radroute zu kommen, andererseits konnten unsere Autos für wenig Geld während unserer Abwesenheit auf einem bewachten Parkplatz vorm Hotel stehen bleiben.

Zwei Tage dauerte die Anreise ins ca. 1300 km entfernte Szigetszentmiklos. Wir haben eine Zwischenübernachtung in Melk/Wachau eingelegt und sind dann am Abend des 19. Septembers 2005 im Hotel Gastland angekommen. Es regnete in Strömen, aber das tat unserer guten Laune keinen Abbruch, zumal auch das Essen im Hotelrestaurant sehr lecker war.

Am Dienstagmorgen, 20. September, regnet es noch immer. Wir machen uns mit den Fahrrädern auf den Weg. Zunächst ist es schwierig, aus dem Autogewühl in der Nähe der Autobahn herauszufinden. Leute, die wir nach dem Weg fragen, wollen uns auf die stark befahrene Landstraße 51 schicken, bis wir - endlich - auf einen wunderschönen Weg direkt an der Donau landen. Von nun an können wir die Donau, die hier sehr breit ist, ein Stück auf ihrem Weg von Budapest ans Schwarze Meer begleiten. Schade, dass die Sicht wegen des andauernden Nieselregens nicht besonders gut ist.

Die Donau fließt weiter, unsere Reise an diesem Tag endet in Domsöd. Hier soll es laut unserer ungarischen Radkarte ein Hotel geben, aber wir finden keins. Wir fragen Einheimische, versuchen, uns per Zeichensprache zu verständigen und ahnen: Es gibt kein Hotel. Die Dorfbewohner, die uns umringen, sind sehr hilfsbereit. Sie telefonieren für uns im Gemeindehaus, versuchen zu erklären, was sie regeln und holen schließlich einen deutschsprachigen Menschen zu Hilfe. Wir erfahren: Sie haben eine Frau angerufen, die Zimmer vermietet. Diese würde mit dem Auto kommen und uns zu ihrem Haus bringen.

Sie kommt und wir fahren mit unseren Rädern hinterher. Sie wohnt etwas außerhalb. Zuletzt führt der Weg auf einem schmalen Steg über einen kleinen Bach zu ihrem Haus. Zu unseren Zimmern müssen wir eine Art Hühnerleiter hoch und finden dort oben ein Sechs-Bett- und ein Vier-Bett-Zimmer. Wir teilen uns mit Horst-Werner und Ulla das Sechs-Bett-Zimmer, Marion und Wolfgang nehmen das andere. Es gibt nur ein Badezimmer für uns sechs.

Die Frau, sie heißt Krysztina, bietet an, für uns Letscho, das ungarische Traditionsgemüse aus Zwiebeln, Paprika und Tomaten, zu kochen. Wir nehmen das Angebot erfreut an, da keiner mehr Lust hat, mit dem Fahrrad zum Essen zurück in den Ort zu fahren. Horst-Werner und Wolfgang fahren jedoch noch einmal los, um Bier zu kaufen. Es dauert ca. 2 Stunden, bis sie endlich zurückkommen. Sie hatten in einer Kneipe Krysztinas Mann getroffen und mit ihm ein Bierchen (oder auch zwei) getrunken. Anschließend sind sie mit ihm im Auto in einen Supermarkt gefahren, um Dosenbier zu kaufen. Man höre und staune: Die Beiden ließen ihre kostbaren Räder, die sie normalerweise nie aus den Augen lassen, vor der Kneipe stehen und fuhren mit unserem Vermieter zum Einkaufen. Als sie zurückkamen, mussten alle drei das von Erfolg gekrönte Ereignis noch einmal mit Bier in der Kneipe begießen, bis sich unsere beiden Kumpel endlich auf ihre Räder schwangen und mit den Getränken zurück ins Quartier fuhren.
Jetzt können wir endlich essen. Krysztina hat Letscho als Eintopf mit Würstchen gekocht. Sehr schmackhaft! Als Nachtisch bietet sie Eis und eine selbst gemachte Vanillecreme an. Insgesamt wird es ein lustiger Abend. Krysztina kann ganz gut deutsch sprechen und setzt sich längere Zeit zu uns. Ihr Mann dagegen hält sich lieber im benachbarten Zimmer vor dem Fernseher auf.
Für Abendessen und Übernachtung mit Frühstück zahlen wir € 20,-- pro Person.

Am nächsten Morgen - Gott sei Dank regnet es nicht mehr - begleitet sie uns ein Stück mit dem Fahrrad, damit wir den richtigen Weg finden. Sie führt uns zur Landstraße 51. Da die vorgegebene Radroute wenig später auch auf der Landstraße entlangführt, bleiben wir auf der mittelmäßig befahrenen Straße, bis der Weg dann endlich wieder über kleine verkehrsarme Straßen und Feldwege führt.
Vor Kalocsa ist die Landstraße 51 neu ausgebaut und die alte - etwas höher gelegen wie ein Deich - verläuft fast parallel dazu. Das heißt, hier können wir die alte Landstraße, auf der keine Autos mehr fahren, als „Rennstrecke mit Rückenwind“ benutzen.

In Kalocsa befindet sich das ungarische Gewürzpaprika-Museum, das über Geschichte, Anbau und Verarbeitung von Paprika informiert.
Als wir in Kalocsa hineinfahren, steht der Wirt vom Club-Hotel vor seinem Haus und bietet seine Zimmer an: sehr schöne neue Zimmer mit Dusche und WC für € 30,--. Wir schauen uns zunächst anderweitig im Ort um, die Zimmer im Hotel Kalocsa sind doppelt so teuer, so dass wir im Club-Hotel übernachten. Das Restaurant dort hat eine eingeschränkte Speisekarte: es gibt nur Pizzen, dafür aber die besten der Stadt, sagt der Wirt. Wir verzichten an diesem Abend auf ungarisches Essen und begnügen uns mit Pizza, die wirklich ausgesprochen lecker ist.

Am nächsten Morgen bleiben wir fast nur auf der Landstraße 51. Teilweise kann man sehr gut fahren, teilweise herrscht aber auch reger Autoverkehr. Der Originalradweg führt streckenweise an der Donau entlang und ist als schlechte Wegstrecke in der Radkarte eingezeichnet. Aufgrund des vielen Regens in den letzten Tagen ziehen wir es vor, auf der Straße zu bleiben.

Unser Weg führt nach Süden bis fast an die ehemals jugoslawische Grenze. In Baja, einer Hafenstadt am Donauarm Sugovica, finden wir Zimmer im Duna-Hotel. Vorm Duschen spazieren wir durch den Ort, um uns im Hellen noch ein wenig umzusehen. Sehr bald sind wir einer wahren Mückenplage ausgesetzt, so dass wir unseren Weg bis zum Donauufer nicht mehr fortsetzen und zum Hotel zurückgehen. Der Schweiß auf unserer Haut hat wahrscheinlich noch mehr Mücken angelockt, trotzdem glaube ich, dass vorheriges Duschen den Spaziergang kaum angenehmer gemacht hätte.
Abends im Hotelrestaurant bestellen wir gegrillten Wels mit Röstkartoffeln und Salat und als Nachtisch Palatschinken mit Maronenmus.

Am nächsten Morgen, Freitag, 23. September, wollen wir Kiskunhalas erreichen. Der Ort liegt ca. 80 km in nordöstlicher Richtung von Baja entfernt. An einem kleinen Flughafen mit alten Motorflugzeugen unterhalten wir uns lange mit dem Wärter, einem alten Mann, der uns die Halle mit den Flugzeugen zeigt. Seine drei Hunde beschnuppern uns und freunden sich mit uns an.

Etwas später kehren wir in eine Gaststätte ein, um zu essen. Es gibt nur „Gulasch“, sagt die Kellnerin, tatsächlich ist es Bohnengulasch, eine Art serbische Bohnensuppe. Als Nachtisch wird sehr leckerer, noch warmer Apfelkuchen serviert. Offenbar handelt es sich um ein Stammessen, denn es kommen viele Leute mit Henkelmännern, die sich das Essen abholen.
Nach dem Essen spricht uns eine ältere Frau an. Sie spricht gut deutsch und gibt sich als Ungarin deutsch-schwäbischen Ursprungs zu erkennen. Genau wie der Wirt vom Club-Hotel in Kolosca, der ganz stolz darauf war, mit Nachnamen Spiegel zu heißen.

Die Vorfahren dieser Donauschwaben wurden nach der Vertreibung der Türken aus dem Karpatenbecken und Südosteuropa im 18. Jahrhundert vom Wiener Hof angeworben, um als Bauern und Handwerker das brache Land zu besiedeln und nutzbar zu machen. Hauptsächlich ärmere Familien und Alleinstehende schlossen sich den kaiserlichen Werbern an und wurden auf überdachten Holzflößen (sog. Ulmer Schachteln) die Donau abwärts nach Ungarn gebracht, wo sie Felder, Häuser und 10 Jahre Steuerfreiheit erhielten. Die Überschwemmungen von Donau, Theiß, Maros und Körös brachten jedoch Krankheiten und Seuchen, denen viele Siedler zum Opfer fielen. Somit bewahrheitete sich die Volksweisheit: „Den ersten der Tod, den zweiten die Not, den dritten das Brot“.

Bisher haben wir erst 20 km geschafft. Es ist ziemlich zweifelhaft, ob wir heute noch nach Kiskunhalas kommen. Doch nach dem Essen können wir zügig auf verkehrsarmen Straßen fahren und erreichen doch noch unser Etappenziel. Wir finden auch ganz schnell Zimmer im Csipke-Hotel.

Am Samstag, dem 24. September, verlassen wir das Hotel nicht ganz so früh. Außerdem ist in Kiskunhalas Markt, den wir uns erst noch ansehen. Es werden alle möglichen Gemüsesorten angeboten, auch Geflügel und anderes Fleisch, aber insbesondere filigrane Spitzendecken, für die die Stadt bekannt ist. Die Ursprünge der Spitzenkunst gehen bis 1903 zurück, als der Lehrer und Sammler Árpád Dékáni Muster für Spitzen entwarf und sie von Näherinnen herstellen ließ. Die berühmten, hauchdünnen Spitzen von Halas fanden 1958 anlässlich der Weltausstellung in Brüssel Anerkennung und wurden mit dem „großen Preis“ ausgezeichnet. Im Spitzenhaus (Czipkehàs) sind die schönsten Exemplare zu bewundern.

Ulla und Marion kaufen sich Spitzendeckchen.

Als wir den Ort verlassen, ist es 11.30 Uhr. Unser heutiges Ziel ist die Stadt Szeged. Wir kommen zügig voran, vor allen Dingen auch, weil die Wegstrecke, wie in den letzten Tagen, eben ist.
Kein Wunder, wir befinden uns in der Südlichen Tiefebene. „Das Meer der Ebene“, so beschrieb der ungarische Dichter Sándor Petöfi die ungarische Puszta und die Theiß. In dieser Gegend werden die meisten Sonnenstunden gezählt und Thermalwasser sprudelt hier reichlich.

Schwieriger wird es erst, als wir in Szeged hineinfahren. Die Radwege sind sehr schlecht und holperig, so dass man nur langsam vorwärts kommt. Es dauert lange, bis wir das Zentrum erreicht haben. Wir kommen im Hotel Forrás unter und beschließen, zwei Nächte zu bleiben. Einen Tag lang wollen wir die Stadt besichtigen und das Schwimmbad im Hotel nutzen.

Das Wetter ist schön, wir gehen zu Fuß in die Stadt. Szeged liegt am Zusammenfluss von Theiß und Maros, verzeichnet jährlich 2.100 Sonnenstunden und heißt deshalb auch „Stadt des Sonnenscheins“. Berühmt sind die echte Pick-Salami sowie die für die ungarische Küche typische scharfe oder milde Gewürzpaprika, die auch reichlich in der Szegediner Fischsuppe Verwendung findet. Der Wissenschaftler und Nobelpreisträger Albert Szent-György, der aus Gewürzpaprika das wichtige Vitamin C isolierte, stammte aus Szeged.

Beeindruckend ist auch der Dom tér, ein fast quadratischer Platz, der von einem einzigartigen expressionistischen Gebäudeensemble umgeben ist. An der offenen Seite des in Hufeisenform gestalteten Gebäudekomplexes steht die Votivkirche. Ihrem Bau lag ein Gelübde der Einwohner während des Hochwassers von 1879 zugrunde.
Den Nachmittag verbringen wir im Thermalbad und danach gemütlich auf den Zimmern. Abends besuchen wir ein kleines, aber feines Esslokal gegenüber dem Hotel. Drei ganze gebackene Zander stehen auf unserer Speisekarte. Außerdem probieren wir etliche Weine aus der Region.

Am nächsten Tag dauert es eine Weile, bis wir aus Szeged herausfinden und endlich auf dem Damm neben der Theiß sind. Wir fahren durch eine landschaftlich sehr schöne Gegend, allerdings sehen wir von der Theiß nicht viel. Sie versteckt sich hinter zahlreichen Büschen und Bäumen .
Mittags fragen wir Einheimische nach einem Restaurant. Ein Mann fährt mit seinem Auto vor und führt uns zu einem Fischlokal direkt an der Fähre, wo wir sowieso die Theiß überqueren wollen.

Nachdem wir mit der Fähre übergesetzt haben, kommen wir recht gut voran. Wir erreichen Scongràd, eine kleine Stadt am Zusammenfluss von Theiß und Körös. Erwähnenswert sind hier 30 denkmalgeschützte Fischerhäuser aus dem 14. Jahrhundert.
Hier bleiben wir, um am nächsten Morgen bei schönem Wetter und flottem Tempo weiterzuradeln.. Erstmals entdecken wir das Radzeichen „Eurovelo“, das ja einen länderübergreifenden Verbindungsweg für Radfahrer durch Europa kennzeichnen soll. Leider ist die Beschilderung nicht durchgängig.

Gegen Abend fängt es an zu regnen. Um die verkehrsreiche Straße nach Szolnok zu meiden, radeln wir auf einem Damm neben der Straße. Das geht lange sehr gut, bis die Räder plötzlich im matschigen Lehmboden blockieren. Mühsam schieben wir sie zur nächsten Tankstelle, um den Matsch mit einem Schlauch abzuwaschen.

Szolnok, unser Ziel, liegt am Zusammenfluss der Theiß und des Flusses Zagyva. Die Stadt ist seit mehr als 900 Jahren ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt an der Theiß.
Horst-Werner hat sich aus dem Radführer das Hotel Tisza herausgesucht, das er ansteuern möchte, weil es ein Thermalbad hat. Wir fragen einen einheimischen Radfahrer, der uns auf Nebenstrecken und an der Theiß entlang zum neobarocken Bau des Hotels Tisza führt.
Vor dem Essen besuchen wir das Thermalbad.

Am Mittwoch, dem 28. September, geht es nach Tiszafüred. Der Weg dorthin ist ganz toll, so romantisch wie man sich halt die Puszta vorstellt. Immer wieder kommen wir auf Nebenstraßen durch kleine typisch ungarische Dörfer. Einmal müssen wir die Theiß mit der Fähre überqueren. Als wir unter schattigen Bäumen auf die Fähre warten, plagen uns wieder die Mücken.

Die Entfernung bis Tiszafüred haben wir unterschätzt. Letztlich zeigt der Tacho 97 km, als wir im Ort ankommen. Wir quartieren uns in einer einfachen, aber sauberen Pension ein, die auch entsprechend preiswert ist.
Aber Wolfgang ist überhaupt nicht zufrieden und äußert sich abfällig über die „Kaschemme“. Man kann jedoch nicht davon ausgehen, jedes Mal so ein Luxushotel zum kleinen Preis wie in den letzten Tagen zu finden.

Werner geht es nicht gut. Er hat unterwegs schon Durchfall gehabt, hat aber tapfer 97 km durchgehalten. Nur abends will er nicht mit zum Essen gehen.
Die Gelegenheit ist für uns günstig, einen Tag mit dem Radfahren auszusetzen, da wir morgen in die Hortobàgy Puszta wollen und dann sowieso wieder nach Tiszafüred zurückkommen müssen, um in Richtung Budapest zu radeln.

Am nächsten Morgen sagen wir den anderen, dass wir eine zweite Nacht in Tiszafüred, auch in der gleichen Pension, bleiben wollen. Wolfgang versucht Werner ohne Erfolg zu überreden, das Hotel zu wechseln und meint dann, wer freiwillig in einem so schrecklichen Quartier bleibt, dem müsse es wahrlich schlecht gehen.

Das Frühstück ist ziemlich einfach. Es gibt keinen Kaffee, sondern eine süße Brühe, die sich Tee nennt. Der junge Mann ist aber sehr bemüht und findet noch einige Beutel Schwarztee. Überhaupt ist die Belegschaft - abends gibt es einen Nachtportier - sehr freundlich und zuvorkommend.
Ich kaufe in der Apotheke einige Medikamente für Werner, ansonsten vertreibe ich mir allein die Zeit. Abends gehe ich in das nebenan liegende Restaurant, wo ich am Tag zuvor mit den anderen vier war.

Irgendwann an diesem Abend holt mich der Nachtportier ans Telefon. Es ist Horst-Werner. Die vier haben sich in Hortobàgy-Mata in einem wunderschönen Reiterhotel einquartiert, wo es ein Schwimmbad, ein Thermalbad und eine Sauna gibt. Sie wollen noch eine Nacht verlängern und fragen, ob wir am nächsten Tag auch dorthin kommen könnten.

Am nächsten Tag ist Werner zwar noch nicht ganz o.k., aber er will die Fahrt nach Hortobàgy wagen. Da es regnet, bleiben wir auf der Landstraße, denn die Wege in der Puszta sind sehr schlecht. Trotzdem sehen wir einiges von der beeindruckenden Landschaft.

Nach 40 km ist das Reiterhotel erreicht. Wir erhalten ein schönes Zimmer, die anderen vier haben zusammen ein Ferienhäuschen, wo auch wir unsere Fahrräder unterstellen können.
Werner isst mittags schon wieder ein Hühnersüppchen und es bekommt ihm. Anschließend legt er sich hin, und ich verbringe den Nachmittag mit den anderen im Schwimmbad und in der Sauna. Wir stellen fest, dass die Ungarn alle mit Badehose bzw. Badeanzug in die Sauna gehen, was für uns völlig fremd ist.
Das Essen im Hotel schmeckt uns super.

Am Samstag, dem 1. Oktober, fahren wir alle zusammen zurück nach Tiszafüred. Vorher schauen wir uns jedoch die Neun-Bogen-Brücke an, die mit 167 m die längste Steinbrücke Ungarns ist und in den Jahren 1827 bis 1833 erbaut wurde. In der Czàrda gleich neben der Brücke zeigt das Hirtenmuseum Exponate zur Geschichte der Region.
Hortobàgy ist mit 63.000 Hektar die größte, zusammenhängende natürliche Grassteppe Europas und ein Teil der nördlichen Tiefebene. Hier entstand 1973 der erste und größte Nationalpark Ungarns.

Das Gebiet war im Mittelalter dicht besiedelt. Die Entvölkerung kam mit dem Mongoleneinfall und während der Türkenherrschaft. Die heutige Puszta war Überschwemmungsgebiet für die Theiß und den Fluss Hortobàgy. Das garantierte fruchtbares Weideland. Deshalb spielte die Zucht von Graurindern, Pferden und Schafen eine immer größere Rolle. Als die Theiß um 1840 reguliert wurde, verödete die Puszta. Inzwischen versucht man durch den Bau von Kanälen, das Land wieder besser zu bewässern. Die Hortobàgyer Puszta ist Lebensraum für viele seltene Pflanzen und Tiere. Es gibt hier z.B. ca. 250 Vogelarten, unter anderem Großtrappen, Löffler oder Weißbartseeschwalben. Besonders geschützte Gebiete dürfen nur zu bestimmten Zeiten betreten werden. Die UNESCO hat diese einzigartige Steppenlandschaft 1999 als Weltkulturerbe anerkannt.
In Tiszafüred-Orvèny buchen wir Zimmer im Hotel Hableàry direkt an der Theiß.

Am Sonntag, dem 2. Oktober, geht es durch kleine ungarische Dörfer bis Jàszberèny. Wir befinden uns bereits auf der Rückfahrt in Richtung Budapest. Jàszberèny war jahrhundertelang Zentrum der im 13. Jahrhundert eingewanderten, aus dem Iran stammenden Volksgruppen der Jazygen (Jászok). Wir kommen im Touring Hotel unter, einer einfachen preiswerten Unterkunft, vergleichbar mit der in Tiszafüred, aber Wolfgang ist diesmal hochzufrieden, vielleicht auch, weil das Frühstück besser ist.

Wir schätzen, dass die Strecke am nächsten Morgen bis Szigetszentmiklos, wo wir unsere Autos zurückgelassen haben, ca. 85 km lang sein wird. Wenn wir diese Strecke schaffen, könnten wir am darauffolgenden Tag - so unsere Planung - Budapest ohne Fahrräder besuchen.
Frohen Mutes machen wir uns auf den Weg. Wieder fahren wir durch kleine typisch ungarische Dörfer und fast autofreie Straßen. Auf unserer ganzen Tour hatten wir keine Steigungen, um so überraschter sind wir, als das Gelände plötzlich hügelig wird. Wenn das so weitergeht, würden wir es wohl kaum bis Szigetszentmiklos schaffen. Dann wird die Wegstrecke wieder eben, nach einer Einkehr in der Mittagszeit kommen wir gut voran.

Doch insgesamt ist der Weg weiter als gedacht. Es ist Oktober und es wird früh dunkel, so weit im Osten noch etwas früher als bei uns. Und die Dunkelheit bricht ziemlich plötzlich herein, nach einer kurzen Dämmerung ist es um 18:30 Uhr stockduster. Ausgerechnet da haben wir noch das Stück verkehrsreiche Autobahnzufahrt bis zu unserem Hotel vor uns. Es ist sehr unangenehm, im Dunkeln zu fahren, wenn die Autos an einem vorbeirauschen. So endet der letzte Radeltag ziemlich nervig. Der Tacho zeigt 110 km an. Entsprechend kurz fällt der Abend im Restaurant aus.

Am nächsten Morgen bestellen wir zwei Taxen und lassen uns nach Budapest fahren. Jede Taxe kostet 6.000 ft., also ungefähr € 24,--, das sind € 8,-- pro Person. Wir buchen eine Stadtrundfahrt im offenen Bus. Obwohl das Wetter sehr wechselhaft ist, brauchen wir keinen Regenschirm. Es ist sogar so warm, dass die Fahrt im offenen Bus zu einem angenehmen Erlebnis wird.
Nach der Stadtrundfahrt schauen wir uns - teilweise getrennt - in der Fußgängerzone und in den Geschäften um. Wir haben uns für 18:00 Uhr zur Heimfahrt verabredet.

Wir wollen wieder zwei Taxen zum Festpreis mieten, doch die ersten Taxifahrer, die wir ansprechen, gehen nicht darauf ein. Sie wollen mindestens 18.000 ft. bzw. 20.000 ft. pro Taxi, darüber hinaus solle der Taxometer laufen. Beinahe hätten wir unsere Taxifahrer von heute morgen aus Szigetszentmiklos angerufen, doch dann finden wir jemanden, der zusammen mit seinem Kollegen bereit ist, uns für 6.000 ft. pro Taxi ins Hotel zurückzufahren.

Den „schönen Abschluss einer eindrucksvollen Radreise“ verschieben wir auf den nächsten Tag. Wir fahren mit den Autos bis St. Andrä am Zicksee (in der Nähe des Neusiedler Sees) und quartieren uns bei einem Winzer ein. Dort lassen wir den Abend bei einer genussvollen Weinprobe und einem leckeren Essen ausklingen, bevor wir am Tag darauf - jeder in seine Richtung - nach Hause fahren.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von ehemaliges Mitglied am 09.08.2022:
Kommentar gern gelesen.
Hallo Christelle, gelungene, sehr detaillierte Reisebeschreibung. Da werden bei mir Erinnerungen wach. Fünfzehn Jahre zuvor unternahmen meine Frau und ich eine ähnliche Reise, per Leihwagen ab Budapest. So waren eher Städte die Etappenziele. Dazwischen gab es allerdings leeres Land, ohne Ende, so empfanden wir es. Und die Erinnerungen gerade von dort sind die nachhaltigsten geblieben, vor allem die Begegnungen mit den Menschen, da irgendwo im Nirgendwo. Die Namen der Dörfer konnte ich mir schon damals nicht merken. Ungarn war seinerzeit noch nicht Mitglied der EU, so erlebten wir eine sympathische "Rückständigkeit"; an Piroschka haben wir oft gedacht. Niemand im Land fühlte sich abgehängt, nicht einmal in Budapest. Dieses hat die heutige Politik weitgehend geändert - schade!




geschrieben von Christelle am 09.08.2022:

Herzlichen Dank, Horst. Ich habe diesen Reisebericht 2005 geschrieben und mit entsprechenden Fotos versehen. Er war in Vergessenheit geraten, bis ich den Text jetzt auf einem alten Computer wiedergefunden habe. Er hat bei mir alte, aber sehr schöne Erinnerungen geweckt. Ich glaubte schon, dass er zu lang für „Kurzgeschichten“ sei, obwohl ich ihn um einiges gekürzt veröffentlicht habe. Wir sind von 2002 bis 2006 des Öfteren mit dem Fahrrad in Ungarn gewesen, weil uns die Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit der Ungarn immer tief beeindruckt hat. Auch wir haben viel an Piroschka gedacht. Mit dem Fahrrad waren wir meist im ländlichen Raum unterwegs, weniger in größeren Städten. Von unseren anderen Ungarn-Reisen existieren nur handschriftliche Notizen, die es wahrscheinlich wert wären, aufgearbeitet zu werden. Es freut mich sehr, dass mein Bericht ähnliche Erinnerungen und Gefühle bei dir geweckt hat.




geschrieben von Gari Helwer am 10.08.2022:
Kommentar gern gelesen.
Hallo Christelle! Ein interessanter Reisebericht, für mich zu lesen, als wäre ich dabei gewesen! (War noch nie in Ungarn) Liebe Grüße!




geschrieben von Christelle am 11.08.2022:

Hallo Gari, ich freue mich sehr, dass dieser etwas lange Reisebericht von dir gelesen wurde und dir offenbar auch gefallen hat. Seit mir diese Geschichte wieder in die Hände gefallen ist, gehen mir unsere Ungarn-Reisen nicht aus dem Kopf.




geschrieben von ehemaliges Mitglied am 05.02.2023:
Kommentar gern gelesen.
Hallo Christelle, deine Reisebeschreibung habe ich mit Freude gelesen. Da hattet ihr ja erlebnisreiche Tage. Wir sind fast jedes Jahr in Ungarn und genießen die Gastfreundschaft und das leckere Essen. Bei deiner Beschreibung habe ich das Gefühl teilgenommen zu haben. Danke. Ich freue mich auf den diesjährigen Urlaub. Mit dem Rad von Ungarn nach Wien und zurück.




geschrieben von Christelle am 06.02.2023:

Liebe Anna-xx, es freut mich sehr, dass dir mein Reisebericht gefallen hat. Bis ca. 2008 waren wir sehr oft mit dem Fahrrad in Ungarn, und zwar in den verschiedensten Regionen, und wir sind natürlich auch ein paarmal den Donauradweg gefahren. Wir haben so viel Gastfreundschaft erlebt, dass wir uns manchmal gefragt haben, ob wir Fremde so freundlich aufnehmen würden. Leider ist die Zeit der Urlaubsreisen mit dem Fahrrad bei mir vorbei. Wir haben aber vor 4 Jahren eine Busreise nach Ungarn gemacht, auch dort hatten wir positive Erlebnisse mit den Einheimischen. Ich wünsche dir einen wunderschönen Urlaub und viel Spaß auf eurer Radreise. 🚲🚲

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