geschrieben 2016 von Andreas Mettler (Metti).
Veröffentlicht: 06.01.2016. Rubrik: Fantastisches
Stiefkind des Plattwurms
1
„Und das ist unser Rechenzentrum.“ Der Nerd mit dem Hipsterbart führte mich durch die Computerregale. „Das wäre dann quasi Ihr neues zu Hause.“
„Oha“, staunte ich.
„Nicht gerade ein Luxusappartement, was? Aber dafür zu hundert Prozent mit Ökostrom versorgt.“
„Hm.“
„Ewiges Leben und gleichzeitig was für die Umwelt tun. Na, ist das was?“
„Naja, sicher. Irgendwie.“
„Möchten Sie einen Kaffee?“
„Haben Sie einen koffeinfreien?“
„Aber natürlich.“ Er holte eine braune Dose hervor. „Sie leben wohl sehr gesundheitsbewusst, was?“
„Ich vertrage keinen Kaffee mit Koffein. Ich werde dann blind und kann nicht mehr sprechen.“
„Donnerwetter, sowas habe ich noch nie gehört. Naja, darüber werden Sie sich keine Sorgen mehr machen müssen, wenn wir Sie erst einmal ins Rechenzentrum überspielt haben.“
Der Kaffee schmeckte hervorragend. „Wie fühlt sich das an, wenn Sie mich digitalisiert haben?“
„Für Sie ändert sich gar nichts. Betrachten Sie es als eine Art Backup. Alles was Sie heute sind, wird gesichert. Für immer. Sie leben als das Original einfach weiter.“
„Und nach meinem Tod aktivieren Sie das Duplikat?“
„Sobald wir diese Technik entwickelt haben, sicher“, meinte er schlürfend. „Aber wir sind schon heute dazu in der Lage, Ihr komplettes Nervensystem zu erfassen und digital zu speichern.“
„Aber wenn ich tot bin, dann bin ich trotzdem tot?“
„Kommt darauf an, wie Sie Unsterblichkeit definieren.“ Er schenkte uns beiden eine weitere Tasse ein. „Die Technik macht rasante Fortschritte. Wir können jetzt noch nicht absehen, in welcher Weise Ihr Backup zu neuem Leben erwacht.“
„Aber ein Backup bleibt ein Backup“, meinte ich. Auch koffeinfreier Kaffee schmeckt bisweilen recht stark. Ich gönnte ihm noch ein zusätzliches Stück Zucker. „Selbst wenn Sie den perfekten Klon von mir erschaffen, dann endet mein Dasein doch immer noch mit dem Tod.“
„Ich bin Techniker und kein Philosoph.“
„Können Sie denn mein Bewusstsein in den Computer übertragen?“
„Wer weiß? Vielleicht haben komplexe Rechenmaschinen längst ein Bewusstsein entwickelt. Wer will das beweisen? Oder widerlegen?“
„Hm“, ich fühlte eine gewisse Unruhe in mir. „Aber ist das Bewusstsein meines Duplikates auch mein eigenes? Sehen Zwillinge durch die Augen ihrer Geschwister?“
„Wie gesagt, zum jetzigen Zeitpunkt können wir nur das Backup garantieren. Was eines Tages daraus wird... Meine Güte, da kann viel passieren.“
„Meine Seele können Sie nicht duplizieren?“
„Sie sollten sich an einen Theologen wenden.“
Darauf hatte ich keine Worte mehr. Und ich wurde blind.
„Oh“, meinte der Nerd. „Und hier ist ja auch die Dose mit dem koffeinfreien Kaffee. Darf ich Sie nach draußen begleiten?“
2
„An Ihren Aufschlägen sollten Sie noch arbeiten“, meinte der Dorfpfarrer.
„Nicht nur daran. Ich spiele Tennis immernoch so, als wäre es Federball.“
„Aber dafür nicht schlecht“, nickte er. „Sie haben immerhin ein paar Punkte gemacht.“
„Ich konnte Sie am Anfang verwirren. Meine Bälle fliegen einfach etwas anders, als Sie es gewöhnt sind.“
„Schon mal darüber nachgedacht, Tennisstunden zu nehmen?“
„Ach was, meine rechte Schulter ist sowieso kaputt. Das wird nichts mehr.“
„Oh!“
Wir hatten auf den Bänken links und rechts des Schiedsrichterturms Platz genommen.
„Ich hab da mal eine theologische Frage an Sie“, rief ich über das Metallkonstrukt des Hochstuhls hindurch. Ich konnte nur die Stirn des Pfarrers sehen.
„Oh, das freut mich“, meinte der Dorfpfarrer. „Das passiert mir nicht oft.“
„Ich interessiere mich für die Unsterblichkeit. Was hat Ihr Verein da zu bieten?“
„Hm, im neuen Testament ist der Begriff des ewigen Lebens recht präsent.“ Er holte seine Bibel aus der Tennistasche.
„Sie sind wohl immer vorbereitet, was?“
„Das ist mein Job.“ Er blätterte nur kurz. „Hier: Johannes 5,24: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.“
„Hört sich gut an, aber wie kann ich mir das Leben nach dem Tode im christlichen Sinne vorstellen?“
„Das weiß niemand so ganz genau. Nach dem Römer Brief 6 würde ich davon ausgehen, dass wir dann frei von der Sünde sind.“
„Hm“, ich nahm einen Schluck aus meiner Wasserflasche. „Naheliegend, würde ich sagen. Sonst geht es im Himmel am Ende so zu wie auf der Erde. Aber was passiert mit meinem Körper?“
„Ich glaube, darauf hat der Korinther-Brief Antworten.“ Diesmal blätterte er etwas länger. „Ah, ja. Im Kapitel 15 steht: Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und das plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune erschallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden.“
„Verwandelt?“ fragte ich skeptisch.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir dann noch in unserem Körper im bisherigen Sinne leben“, meinte der Dorfpfarrer. „Mit all seinen Krankheiten und so.“
„Das wäre aber schon ein gewaltiger Sprung. Mein Nervensystem gehört zu meinem Dasein einfach mit dazu. Und ein sündenfreies Leben wäre auch eine große Änderung meiner Persönlichkeit.“
„Bei Ihnen auf jeden Fall“, lachte der Pfarrer. „Spielen wir noch eine Runde?“
„Was immer meine Schulter noch hergibt!“
3
„Danke für Ihre Einladung“, meinte ich. „Echt nobel hier.“
„Schon in Ordnung“, antwortete der Wissenschaftler aus Polen. Er war standesgemäß gekleidet. Ich war es nicht.
„Nobel sind auch die Preise.“ Ich blätterte durch die Speisekarte.
„Sie sind eingeladen. Machen Sie sich darüber keine Sorgen“, sagte er in seinem fast akzentfreien Deutsch. „Der Plathelminthes könnte die Antwort auf Ihre Suche sein, Herr Gilgamesch.“
„Ähm, wie bitte?“
„Ihre Suche nach Unsterblichkeit.“
„Oh, ja. Nach irdischer Unsterblichkeit, um genau zu sein. Alles andere hat mich nicht überzeugt.“
„Der Plattwurm lebt praktisch ewig. Er altert nicht. Seine Körperzellen sind so wandlungsfähig wie die Stammzellen von Embryonen.“
„Das hört sich gut an. Verdammt gut, möchte ich sagen.“
„Beim Plattwurm sind Gene aktiv, die der Mensch nicht mehr zu nutzen vermag. Ich bestelle die siebzehn. Der Mensch hat schlichtweg verlernt, ewig zu leben.“
„Für mich die fünfzehn.“ Ich gab die Karte an den noblen Kellner zurück. „Und Sie können meinen Körper daran erinnern, wie das geht?“
„Der Plattwurm kann es. Falls unsere Forschungen erfolgreich sind.“
„Also ich wär dabei. Wo liegt das Problem?“
„Die Forschung will finanziert sein.“
„Ich habe etwas Geld. Was wird das kosten?“
Er nannte die Summe. Das überstieg meine Mittel. Erheblich. Schweigen.
Endlich brachte der Kellner das Essen. Ich blickte skeptisch auf den Teller. „Oh, das sieht ja recht exotisch aus. Meinen Sie nicht?“
„In der Tat.“
„Könnte fast schon ein Plattwurm sein. Aber die sind ja unsterblich.“
„Nicht wenn man sie tötet.“
„Gehen wir nachher noch zu Burger-King?“
„Ok.“
4
„Die Finanzierung per Crowdfunding war einfacher, als wir anfangs geglaubt hatten.“
„Dann sind Sie jetzt also unsterblich?“ frage mich der Dorfpfarrer.
„Ich denke schon“, meinte ich augenzwinkernd.
„Aber sicher sind Sie auch nicht?“
„Nun, ich bin jedenfalls seit der Behandlung noch nicht gestorben, oder?“ scherzte ich.
„Das sind Sie aber vor der Behandlung auch nicht“, spielte der Pfarrer den Ball zurück.
„Ein gutes Argument. Nein, in der Tat habe ich keinen Beweis dafür, dass der Plattwurm in mir seine Wirkung tut. Ich schaue in den Spiegel und habe nicht das Gefühl, dass ich in den letzten Wochen gealtert bin. Ich bin aber auch nicht jünger geworden. Die selben Falten, die selben grauen Haare.“
„Ich glaube, Sie begehen eine große Sünde.“ Der Pfarrer wurde ernst. „Der Herr hat dem Menschen seine Lebenszeit gegeben und wird ihn dann zu sich rufen. Es ist Ihnen nicht gegeben, dagegen aufzubegehren.“
„Und doch tun es immer mehr Menschen. Das Geschäft mit der Unsterblichkeit läuft nicht schlecht. Und die Kirchenaustritte sind beachtlich.“
„Der alte Mensch muss dem jungen Platz machen. Nur dadurch ist die Menschheit so weit gekommen.“
„Sie sind ein Mann der Kirche. Wollen Sie jetzt mit der Evolution argumentieren? Schauen Sie, ich trage eine Brille. Menschen wie ich wären früher ausgestorben. Wir haben die Evolution längst durcheinander gebracht, das wissen Sie genau. Seit Krebspatienten mit der Chemotherapie geheilt werden, versündigen wir uns am Prinzip von Mutation und Selektion.“
„Ich möchte gar kein ewiges Leben auf dieser Erde“, eine Zornesfalte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. „Und die meisten anderen Menschen wollen das ebenfalls nicht. Sie erschaffen eine Minderheit von lebenden Toten, die von den Lebenden verachtet wird.“
„Ach was“, meinte ich. „Sie sind nur aufgebracht, weil die Kirche das Monopol über die Unsterblichkeit verloren hat.“
An Tennis war in diesem Moment nicht mehr zu denken.
5
„Sie erinnern sich noch an mich?“ fragte der Nerd. Sein Bart machte einen ungepflegten Eindruck und auch seine Kleidung hatte wohl schon bessere Tage erlebt.
„Klar, Sie hatten mich damals durch das Rechenzentrum geführt. Bei Ihnen hatte meine Suche auf Gilgameschs Spuren ihren Anfang genommen. Kaffee?“
„Ja, gerne mit Koffein.“
„Ok, falls ich nicht die Kaffeedose verwechsele“, zwinkerte ich ihm zu. „Wie laufen die Geschäfte?“
„Das brauchen Sie mich nicht zu fragen. Sie wissen, dass ich auf das falsche Pferd gesetzt habe. Und bei Ihnen?“
„Auch das brauchen Sie nicht zu fragen. Das können Sie in jeder Zeitung nachlesen.“
„Sie haben die Welt verändert.“
„Die große Revolution ist voll im Gange. Und die Politik hat alle Hände voll zu tun, den Entwicklungen hinterher zu laufen. Die Rente mit 67 ist ja jetzt wohl hinfällig.“
„Das kann ich mir vorstellen. Was machen Sie jetzt mit Ihrer neuen Lebenszeit?“
„Keine Ahnung. Vielleicht werde ich eine Sinfonie komponieren oder einen Film drehen. Ein Musical inszenieren oder ein Buch schreiben. Oder alles zusammen. Ich bin gerade mal Anfang 60 und habe noch viel Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Genau genommen führe ich mein Leben fast so wie vor der Behandlung.“
„Ich bin so frei“, sagte der Nerd und befüllte seine Tasse erneut mit Kaffee. „Dann verändert sich also nicht gleich das ganze Leben durch den Eingriff?“
„Naja“, meinte ich. „Ein paar Kleinigkeiten gibt es schon. Das Autofahren habe ich gänzlich aufgegeben. Sie wissen, die Gefahren im Straßenverkehr. Es ist schon ein Unterschied, ob ich durch einen Unfall nur 30 Lebensjahre verliere oder gleich mal 900. Und dann die Sache mit der Unfruchtbarkeit. Offenbar sieht der menschliche Körper nach der Behandlung keine Notwendigkeit mehr, sich in dieser Weise zu reproduzieren.“
„Und die Gesellschaft schluckt all diese Veränderungen? Eine nach der anderen?“
„Der Mensch ist ein sehr anpassungsfähiges Wesen. Wir werden die neue Situation schon bald als recht natürlich empfinden. Vielleicht hat es die Evolution so gewollt, dass wir diesen Schritt gehen. Klar, die Kirche kämpft immer noch auf verlorenem Posten um ihr Bild vom ewigen Leben und es gab ein paar Protestbriefe von Pädophilen-Verbänden. Sie wissen schon, weil es immer weniger Kinder gibt auf der Welt. Aber dafür sind die Bevölkerungszahlen jetzt stabil.“
„Unsterblichkeit war auch für mich immer ein Thema“, meinte der Nerd.
„Klar“, nickte ich. „Daher auch die Idee mit Ihrem Rechenzentrum.“
„Nur, ich konnte mir das bisher eben nicht leisten. Die Behandlung ist ja nicht gerade billig.“
„Das muss ja auch so sein“, meinte ich. „Ich muss mir darüber ja auch meine Altersvorsorge finanzieren. Und die muss für Jahrhunderte reichen.“
„Ja, hehe.“ Er lächelte gequält. „Und ich habe mir gedacht, vielleicht können Sie mir mit den Kosten für die Behandlung etwas entgegen kommen. Immerhin kennen wir uns ja ein bisschen aus der Zeit am Anfang Ihrer großen Suche. Wie Sie vorhin selber sagten...“
„Hm, ich glaube, ich habe da das richtige für Sie. Unsere Experten haben ein paar Finanzierungsmodelle entwickelt, die sich über Jahrhunderte strecken. Sie sollten nur ein bisschen auf sich aufpassen, dass Ihnen kein Unfall passiert und weiter fleißig berufstätig blieben. Dann wird das für beide Seiten eine gute Sache.“
6
„Na, Du alter Plattwurm. Gut siehst Du aus“, begrüßte mich der Wissenschaftler aus Polen über den Monitor.
„Ich sehe aus, wie ein Mann um die 50. Und das jetzt schon seit 30 Jahren.“
„Und? Schon kreativ geworden? Was macht Deine erste Sinfonie?“
„Nichts. Gar nichts. Wer viel Zeit hat, kann auch viel Zeit vertrödeln. Und bei Dir?“
„Ich habe mir so ziemlich alle Fernsehserien dieser Welt angeschaut. Aber keine neuen Projekte mehr. Wie wäre es, wenn Du endlich eine Familie gründest?“, scherzte er.
„Du kannst mich in der Mitte durchschneiden, dann hast Du zwei Plattwürmer von meiner Sorte.“
„Was ist nur mit uns los?“ fragte ich eher mich selbst als ihn. „Was stellen wir mit unserer neuen Lebenszeit nur an?“
„Vielleicht sind wir doch alt geworden“, meinte der Wissenschaftler. „Wir verschanzen uns in unseren Zimmern und kommunizieren per Monitor miteinander. Draußen könnte was passieren, was uns die Ewigkeit verkürzt. Wir haben hunderte von Jahren geschenkt bekommen und vertrödeln doch jeden Tag. Ist es wirklich das, was wir uns erträumt hatten?“
„So pessimistische Töne? Wir haben immerhin die Welt verändert. Und das in wenigen Jahren.“
„Die Welt verändert? Wir haben die Kindheit abgeschafft und verfügen selbst nicht mehr über die Kraft, neue Impulse zu setzen. Wo ist die Jugend, die uns jetzt ablöst?“
„Vielleicht brauchen wir einfach noch etwas mehr Zeit“, murmelte ich.
7
Vor rund 40 Jahren war ich an der wohl größten Revolution beteiligt, die sich die Menschheit vorstellen konnte. Die Kirchen haben sich inzwischen zu einer karitativen Bewegung entwickelt, die armen Menschen dabei helfen will, sich die Unsterblichkeit zu leisten. Kinder gibt es keine mehr und sie werden auch von niemandem vermisst. Das Leben der Menschen ist heute insgesamt etwas friedlicher, vorsichtiger und damit auch weniger gefährlich. Die Weltbevölkerung ist stabil und berechenbar, es gibt kaum Fälle von Todessehnsucht. Im Gegenteil: Die meisten Menschen klammern sich mit zunehmendem Lebensalter immer mehr an ihr weltliches Dasein. Doch ich habe in den vergangenen 40 Jahren nichts Großartiges mehr vollbracht.
Ich sitze in meinem Musikzimmer. Neben mir das Klavier. Auf dem Notenblatt sehe ich meine Handschrift: „Sinfonie in C-Dur“.
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