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2xhab ich gern gelesen
geschrieben 2020 von Dirk Hoffmann.
Veröffentlicht: 31.05.2020. Rubrik: Menschliches


Reumeier lernt reiten

Reumeier hatte schon lange keine Lust mehr. Wie so viele Male zuvor in den letzten Wochen, saß er morgens auf der gusseisernen Parkbank und verachtungsvoll glitt sein Blick an der gläsernen Fassade des kalten Bürogebäudes empor. Gelegentlich betrachtete er die vorbei hastenden Leute, aber letztlich waren sie ohnehin alle gleich. Gepflegte Männer und Frauen, teuer gekleidet, schick frisiert, schwer beschäftigt und furchtbar wichtig. Manchmal hatte Reumeier den Verdacht, sie alle seien gerade erst vom Fließband gefallen und ihren transparenten Plastikverpackungen entstiegen. Er gehörte hier schon lange nicht mehr her.

Seine Uhr war zwar edel und teuer, aber dennoch verkündete sie lediglich, dass er in zehn Minuten wieder hinter seinem Schreibtisch sitzen und Leuten, die über sehr viel Geld verfügten, zu noch mehr Geld verhelfen würde. Unter Berufung auf verschlungene Gesetze, die wie Stacheldrahtzäune in der Rechtslandschaft aufgestellt worden waren, würde er dafür anderen Leuten, die ohnehin schon weit weniger Geld besaßen, zu noch viel weniger Geld verhelfen. Etwas anderes tat er den ganzen Tag über da drinnen eigentlich nicht, wenn er ehrlich war. Danach ging er zu seinem Wagen und fuhr heim in ein leeres Haus. Das war alles, mehr würde nicht mehr kommen.

Er seufzte widerwillig auf und fischte ein silbernes Etui aus seinem Jackett. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und kramte suchend in den Taschen nach seinem Feuerzeug, als direkt vor seinem Gesicht ein Streichholz aufflammte.
„Hast du für mich auch eine?“, fragte eine hohe, etwas aufgedreht klingende Stimme.
Aus seinen brütenden Gedanken gerissen, beugte Reumeier sich etwas nach vorn und während er sachte an seiner Zigarette sog betrachtete er die Frau. Abgerissen, war das erste Wort, das ihm in den Sinn kam. Viel jünger als er, wenn es hoch kam gerade mal dreißig, obwohl man das schlecht schätzen konnte, vielleicht hatte die Straße sie auch einfach nur voraltern lassen. Als er, vor vielen, vielen Jahren, noch als Pflichtverteidiger gearbeitet hatte, waren ihm viele wie sie begegnet. Sie wirkte hier zwischen den schicken Bürogebäuden genauso fehl am Platze, wie er sich fühlte und irgendwie gefiel ihm das an ihr.
„Klar, bedienen sie sich, bitte.“ Er hielt ihr das Etui entgegen und, nicht ohne den Blick über die schwere Uhr an seinem Handgelenk schweifen zu lassen, nahm sie sich eine.
„Darf ich mich setzen?“ Unter den etwas zerzausten Haaren lächelte sie ihn freundlich an.
„Warum nicht?“ Er klopfte einladend auf die Bank.
„Ich bin Tripsi.“ Sie nahm Platz und inhalierte tief den Rauch.
„Reumeier, angenehm“, nickte er.
„Schön dich kennenzulernen, Reumeier. Geht es dir nicht gut? Du siehst irgendwie ein bisschen angegangen aus.“ Sie deutete auf sein Gesicht und er zuckte mit dem Kinn zum Eingang der hoch aufragenden Firmenzentrale und schüttelte resigniert den Kopf.
„Ich gehe da seit fast zwanzig Jahren Tag für Tag rein um Dinge tun, die in aller Regel falsch sind und dafür werde ich auch noch verdammt gut bezahlt."
„Und das stört dich?“, erkundigte sie sich mit gerunzelter Stirn.
„Allerdings, aber ich glaube kaum, dass du davon eine Vorstellung hast“, winkte er ab und ärgerte sich über sich selbst. Warum erzählte er ihr das?
„Davon, wie es ist, im Leben falsche Entscheidungen getroffen zu haben und dann nicht mehr zu wissen, wo man eigentlich hingehört? Sich selbst zu verlieren und einfach nur noch weg zu wollen? Nee, natürlich nicht, woher denn auch?“ Sie kicherte leise und strich fahrig über ihre verschlissene Lederjacke. Etwas in ihren Augen tat ihm weh und er hob beschwichtigend die Hände.
„Entschuldige bitte, es war nicht böse gemeint. Du hast wahrscheinlich recht und ich weiß wirklich nicht mehr, wo ich noch hingehöre.“
„Warum kündigst du nicht einfach, wenn dich das alles so ankotzt?“, wollte sie wissen.
„Ich trage meine Kündigung jetzt schon seit Wochen mit mir herum, aber... ich habe keine Ahnung, wie es dann weiter gehen soll, weißt du?“ Er öffnete sein Sakko zeigte auf den Rand eines Briefumschlages, der in seiner Innentasche steckte.
„Was sagt denn deine Frau dazu?“ Tripsi deutete auf den goldenen Ring an seiner gepflegten Hand. Verdammt, warum trug er das Ding noch immer?
„Die gibt es nicht mehr“, schüttelte er traurig den Kopf.
„Das tut mir leid, Reumeier. Gestorben?“, fragte Tripsi, ohne allzu viel Mitgefühl.
„Nein, es geht ihr wahrscheinlich blendend. Sagen wir es mal so, sie hat mir das Mandat entzogen und lässt sich im Prozess ihres Lebens nun von einem meiner Kollegen vertreten“, lächelte er bitter.
„Okay... das ist bestimmt nicht so schön gewesen. Und jetzt? Ich meine, du hasst deinen Job, deine Frau ist dir abgehauen und du hockst hier mit mir auf einer Bank. Was willst du denn jetzt machen?“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Warum schnappst du dir nicht einfach eines der vielen Einhörner und schaust wohin es dich bringt?“
„Von welchen Einhörnern sprichst du denn da?“, zog er amüsiert die Brauen hoch.
„Von denen, die man überall antreffen kann. Gleich da vorne steht auch eins, kannst du es nicht sehen?“ Tripsi zeigte wage die Straße herunter.
„Es wird dich vermutlich überraschen, aber... nein“, Reumeier konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Genau das ist der Unterschied zwischen uns. Ich kann die Einhörner sehen, hingehen und dann einfach auf ihnen davonreiten, wenn es mir an einem Ort nicht mehr gefällt.“
„Wenn ich mir deine Pupillen so ansehe, glaube ich dir das sogar.“
„Nein, da hast du etwas falsch verstanden, Reumeier. Die Einhörner sieht man nicht mit den Augen, sondern nur hiermit.“ Tripsi klopfte sich an die flache Brust und er schwieg nachdenklich.
„Tja, damit habe ich wahrscheinlich wirklich nicht oft genug hingesehen“, räumte er schließlich ein.
„Keine Sorge, dafür ist es nie zu spät, vielleicht lernst du es ja noch.“ Sie trat schwungvoll ihre Kippe aus und stand auf.
„Meinst du wirklich?“
„Ganz bestimmt, die Einhörner lassen niemanden im Stich, du musst nur immer gut auf sie achten. Mach´s gut, Reumeier und pass auf dich auf.“ Sie wandte sich um und schlenderte federnd davon.
„Danke, du auch, Tripsi“, rief er ihr nach und winkend verschwand sie um die nächste Ecke.

Reumeier erhob sich langsam von der Bank, schnippte den Zigarettenstummel weg und tastete noch kurz zögernd nach der Kündigung in seiner Tasche. Tripsi hatte im Grunde ja vollkommen recht. Auch hier stand bestimmt irgendwo ein solches Einhorn herum und es war verdammt nochmal an der Zeit für ihn, es zu satteln.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Susi56 am 17.01.2021:
Kommentar gern gelesen.
Hat mir richtig gut gefallen. So eine unverhoffte Begegnung zweier Menschen aus unterschiedlichen Welten. Schön geschrieben!

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