Veröffentlicht: 25.08.2021. Rubrik: Märchenhaftes
Die Weber-Gaukelei
Die Weber-Gaukelei war traurig. Der tückische Spukschrat hatte ihr, als sie in die weite Ferne sah, die Nase genommen. Aber ohne ihre Nase konnte die Weber-Gaukelei doch nicht die köstlichen Düfte des Sees riechen. Die Weber-Gaukelei mochte den See. Er war ruhig und doch voller spannender Fröhlichkeiten. Da schwamm der nette Fisch und suchte die Sandkörner, die im ruhigen, aber doch selbstbewussten Wellengang dahinwiegten. Und der Duft! Der See roch nach Perlen, Namen und fernen Palästen. Doch die Weber-Gaukelei konnte diesen herrlichen Geruch nicht wahrnehmen. Darüber war sie sehr betrübt. Während sie über ihr Unglück sinnierte, kam ein freundlicher Salmiak-Geist des Weges. Er fragte: „Weber-Gaukelei, was sitzt du denn hier wie ein Häuflein Elend? Was ist passiert?“. Die Weber-Gaukelei erzählte es ihm. Da versprach der Salmiak-Geist: „Keine Sorge. Wenn du magst, kann ich doch mal bei den Salmiak-Geistern an der Grenze ein gutes Wort für dich einlegen. Sie werden dich sicher in die rechte Hälfte lassen.“ Da bekam die Weber-Gaukelei neue Hoffnung und sie beschloss, seinem Rat zu folgen.
Schon von weitem hörte sie das Murmeln der Salmiak-Geister: „Pssst, pass doch auf!“ und „Oha, ja danke!“ und so fort. Sie ging zu ihnen. Ein genervt dreinblickender Geist bemerkte sie, während er über irgendwelche Spezialmöbelfabriken witzelte. Er sah die Weber- Gaukelei direkt an und sagte: „Du bist faul!“. Die Weber-Gaukelei trat zurück. War es wirklich eine so gute Idee gewesen, hier her zu kommen? Sie wollte gerade gehen, als ein kleiner, kreisförmiger Geist, welcher sich unter dem genervt Dreinblickenden befand, rief: „Warte, geh noch nicht! Es war doch gerade so unterhaltsam.“ Dieser kleine Geist schien ganz und gar aus Kreisen gemacht. Seine Gesamtform war ein Kreis, sein Mund war wie ein Kreis geöffnet, und auch die Augen bestanden aus Kreisen, was ihm einen erstaunten Eindruck verlieh. Die Weber-Gaukelei blickte an sich herab. War sie so ungewöhnlich, dass sich so ein dahergelaufener Salmiak-Geist dermaßen über sie wunderte? Hatte ihr deshalb der Spukschrat die Nase entwendet? Nein, bestimmt nicht. Sicherlich erstaunte den kleinen Salmiak-Geist alles und jeder. Die anderen, deren Aufmerksamkeit inzwischen auch von der Weber-Gaukelei in Bann gezogen wurde, waren ja schließlich auch nicht erstaunt. Im Gegenteil, der genervt dreinblickende Salmiak-Geist wirkte eher gelangweilt. Bestimmt war das alles nur ein ... „Hallo?“, unterbrach sie der kleine Salmiak-Geist. Offenbar hatte er die ganze Zeit über mit ihr zu reden versucht. ‚Ja‘, dachte die Weber-Gaukelei, ‚hören kann ich dich, aber nicht riechen‘. Aber sie wollte riechen können. Deshalb riss sie sich zusammen und meinte: „Ja, kann ich. Äh, kannst du mich durchlassen?“. Der Geist erwiderte: „Wie lautet das Zauberwort?“. Die Gaukelei meinte: „Das weiß ich leider nicht. Aber einer von euch hat ein gutes Wort für mich eingelegt. Ich möchte nämlich meine Nase finden.“ „Na schön, also bitte. Ich lasse dich durch.“
Danach geschah etwas, woran die Gaukelei sich nicht erinnern konnte. Sie blickte den Salmiak-Geist an und fragte: „Nun, was ist? Wolltest du mich nicht durchlassen?“. „Nun“, sagte der kleine Geist, „dann schau dich doch mal um!“. Das tat die Weber-Gaukelei: sie selbst stand auf einer riesigen Kugel. Das war nichts Ungewöhnliches. Das war auf ihrer, der linken Seite, genauso. Dort gab es aber nur einen See. Hier gab es viel mehr zu entdecken. Ein exorbitanter Zahnwurm, der im Vergleich zu ihm winzige Zähne vor einer mechanischen Hand bewachte, welche versuchte, ihn zu packen. Ein komischer Mann, der hinter dem Horizont vorsichtig hervorlugte. Ein scheinbarer Kartenständer, welcher sich scheinbar langweilte. Zwei Boxen aus denen Salmiak-Geister heraussprangen. Und Murmeln. ‚Hm‘, dachte die Weber-Gaukelei, ‚ich gehe zuerst zu den Boxen. Salmiak-Geister kenne ich ja schon. Vielleicht werden sie mir helfen.‘ Und so schlenderte sie zur ersten Box. An derer der Sonne abgewandten Seite war eine Klappe, aus der ein Salmiak-Geist heraussprang. Er sah so aus wie eine Birne. Auf einer anderen Seite wuchsen zwei Augenbrauen und eine Nase, aus der Blut tropfte, welches sich zu einem dermaßen gewaltigen Niederschlag entwickelte, dass ein dürres Männchen in der Nähe einen Regenschirm aufspannen musste ... Moment mal, eine Nase? Die Weber-Gaukelei musste überhaupt nicht den Spukschrat finden. Sie konnte einfach diese Nase mitnehmen. Oder vielleicht war das sogar ihre Nase, die der Spukschrat hier abgelegt hatte. Sie wandte sich an den Salmiak-Geist: „Entschuldigung, könnte ich diese Nase mitnehmen?“ Mit einer piepsigen Stimme antwortete er: „Nein! Ich bin der liebe Rappelbapp! Die Nase gehört mir! Rappelbapp, rappelbapp, rappelbapp!“ „Aber“, antwortete die Weber-Gaukelei, „ich will doch nur...“ „Rappelbapp, rappelbapp, rappelbapp!“ ‚Es hat keinen Zweck‘, dachte die Weber-Gaukelei, ‚Vielleicht habe ich bei der nächsten Box ja mehr Glück.‘ Bei der zweiten Box angekommen, fragte sie den Salmiak-Geist direkt: „Könntest du mir helfen?“ „Aber selbstverständlich. Worum geht es? Ich bin übrigens der fiese Rappelbapp.“ „Nun“, entgegnete sie, „Meine Nase fehlt mir.“ „Ich weiß.“, sagte der fiese Rappelbapp, „Woher ich das weiß? Ganz einfach: ich bin Seitenforscher, ich vergleiche die linke und die rechte Seite miteinander. Es gibt alles doppelt. Alles, was es auf der rechten Seite gibt, gibt es auch auf der linken Seite. Die Nase da hinten“, fuhr er fort und deutete auf die erste Box, „steht dort schon seit Jahrzehnten. Du kommst von der linken Seite. An dir kann ich aber keine Nase erkennen, und außer dir gibt es doch dort nur einen See, oder? Nun, lass mich dir helfen. Warum besitzt du deine Nase nicht mehr?“ Die Weber-Gaukelei musste nicht lang überlegen: „Der Spukschrat hat sie gestohlen.“ Der Rappelbapp entgegnete: „Ein Spukschrat? Nun, ich habe noch nie einen Spukschrat in der rechten Seite gesehen. Ich nehme an, auf der linken Seite gibt es auch keinen?“ „Nicht, dass ich wüsste.“ „Das habe ich mir gedacht. Doch was hat das zu bedeuten?“ Er blickte nachdenklich in die Ferne. Dann rief er: „Ich hab’s! Er ist deiner Fantasie entsprungen. Er ist gewissermaßen ein Teil von dir. Seine Gedanken folgen den selben Bahnen wie deine. Nun, wo in der rechten Seite fühlst du dich am wohlsten?“ Die Weber-Gaukelei blickte sich um. Eine zweite Kugel schwebte in der Luft. Zu ihr führte eine Treppe. Dort oben gab es eine Hütte und einen See. „Am See dort oben.“, meinte sie, „Er erinnert mich an die linke Seite.“ „Hm ..., ja das könnte passen. Der Spukschrat könnte sich in der Hütte verstecken.“, murmelte der fiese Rappelbapp. Dann verkündete er feierlich: „Dort, liebe Fremde, wirst du deine Nase finden.“
Der Weg bis zur Hütte war zunächst bequem, leicht und ereignislos. Die Weber-Gaukelei vertrieb sich die Zeit, indem sie überlegte, warum der fiese Rappelbapp lieb und der liebe Rappelbapp fies war. Sie fragte sich auch, warum ihr der Spukschrat die Nase gestohlen hatte. ‚Na ja‘, dachte sie, ‚ein Gutes hat es: die Abenteuer, die ich bis hierhin erlebt habe, sind den kurzzeitigen Verlust der Nase allemal wert.‘ Tief in Gedanken versunken, bemerkte die Weber-Gaukelei gar nicht, welchen weiten Weg sie zurückgelegt hatte. Sie blickte auf und bemerkte, dass sie bereits die Treppe erreicht hatte.
Beim Anblick der Treppe wurde ihr mulmig. Es gab kein Geländer, sondern die Treppe war einfach in die Luft gebaut worden. Man konnte sehr tief fallen. Außerdem sah die Treppe nicht gerade vertrauenswürdig aus. Sie wirkte eher, als ob sie Spaß daran hätte, ahnungslose Wanderer in die Tiefe zu stürzen. ‚Ja‘, dachte die Weber-Gaukelei, ‚die ersten paar Schritte wird die Treppe vermutlich halten, damit die Wanderer denken, die Treppe sei sicher. Doch dann, wenn die Wanderer genau in der Mitte sind, ja dann wird sie zuschlagen. Dann wird sie brechen. Wenn sie denn bricht. Vielleicht versucht sie ja auch, die Leute abzuschütteln, damit sie mehrmals verwendet werden kann. Oder sie lässt die Leute durch, doch wenn diese die Treppe überquert haben, flieht sie einfach und die Leute sind auf der anderen Kugel gefangen. Es könnte auch ein riesiges Monster auf der Treppe auftauchen und Zoll verlangen. Ja, ich habe das mal in einem Buch gelesen, da wurde das bei einer Brücke gemacht!‘ Doch dann geschah etwas, das sie an ihren düsteren Gedanken zweifeln ließ. Ein dürres Männchen spazierte einfach so über die Treppe und kam unbehelligt auf ihrer Kugel an. ‚Das kann ich auch‘, dachte die Weber-Gaukelei. Sie riss sich zusammen und machte den ersten Schritt. ‚So schlimm war es ja doch nicht.‘, dachte sie und machte den nächsten Schritt. Dann noch einen. Und noch einen. Und noch einen. Auf diese Weise überquerte sie die Treppe, nein falsch, sie nahm jede Stufe einzeln. Eine einzelne Stufe zu nehmen, ist nicht ansatzweise so schlimm wie die ganze Treppe zu begehen. Und ehe sie es sich versah, war sie auch schon oben.
Oben, auf der anderen Kugel, gab es nicht sonderlich viel. Aber das was es gab, ließ das Herz der Weber-Gaukelei schneller schlagen. Es gab den See! Exakt haargenau der See, den sie von zu Hause kannte. Sogar der Fisch war hier. Sie erinnerte sich an das, was der fiese Rappelbapp gesagt hatte. ‚Es gibt alles doppelt. Alles, was es auf der rechten Seite gibt, gibt es auch auf der linken Seite.‘ Ja, das hatte er gesagt. Wie recht er hatte! Doch dann besann sich die Weber-Gaukelei und sie sah sich weiter um. Dort stand die Hütte. DIE HÜTTE, in welcher sich vermutlich der Spukschrat versteckt hielt! Mit pochendem Herzen öffnete sie die Tür. Im inneren war das Licht düster. Eine Gestalt saß, ihr den Rücken zugekehrt, auf einem Stuhl und beobachtete dürre Männchen. Als die Gestalt die Tür knarren hörte, drehte sie sich um. Es war der Spukschrat! Er war unrasiert, ungewaschen, zerzaust und hatte vergessen, sich die Zähne zu putzen. Erstaunt blickte er die Weber-Gaukelei an: „Du hier“, brummte er, „mh, na wenn du schon 'mal da bist.“ Er machte eine Pause. „Ich denk 'mal nicht, dass du dich an deinen letzten Traum erinnern kannst.“ Die Weber-Gaukelei schüttelte den Kopf. „Dacht‘ ich mir.“, meinte er, „Ich erzähl‘ es dir:“
Und das erzählte der Spukschrat: Ich war in der Küche. Irgendwie wusste ich es. Da war eine Hexe in der Wohnung. Bei mir war einer zu Besuch, den kannte ich. Der war gerade im Badezimmer. Ich hatte Angst, die Hexe könnte mich holen. Ich schaute immer wieder zur Tür. Dann hörte ich den anderen rufen. Ich begriff, dass die Hexe nicht mich, sondern ihn holen würde. Ich rannte zum Badezimmer und riss es auf. Da stand die Hexe und blickte mich an. Im nächsten Moment konnte ich nichts mehr sehen. Es fühlte sich so an, als ob ich einen Abgrund hinunterfiele. Dann erinnere ich mich nur noch an eines: Gestank. Dieser schreckliche Gestank! Wenn doch nur dieser Gestank aufhören würde, dieser schreckliche Gestank...
„... und so“, endete der Spukschrat, „hab‘ ich Abhilfe geschaffen. Ich bin aus deiner Seele geflohen und habe die Nase und den Traum mitgenommen. Ich weiß, ich hätte dir die Nase zurückgeben sollen. Aber ich wollt‘ nur noch vor der Hexe flieh ‘n, verstehst du?“. Er griff in seine Tasche und zog eine Nase heraus. Der Weber-Gaukelei fiel auf, dass er selbst keine Nase hatte. „Hier, nimm die. Vor dem Traum möcht‘ ich dich aber bewahren.“ Er reichte der Weber-Gaukelei ihre Nase. Die setzte sie gleich auf. „Aber wie komme ich jetzt wieder nach Hause zurück?“, fragte die Weber-Gaukelei. „Weißt du was?“, entgegnete der Spukschrat, „Ich komme mit. Hier ist es zwar ganz schön aber es ist doch nicht das wahre.“ Und so gingen die zwei Freunde zurück in Richtung Heimat, um dort frei von Nasendiebstählen, Hexen und tückischen Treppen zu leben.