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geschrieben 2021 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 28.08.2021. Rubrik: Menschliches


Das fehlende Foto

Tamaras Eltern Hanna und Michael waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie, ihr einziges Kind, erst drei Monate alt gewesen war.

Aufgewachsen war sie danach bei der älteren Schwester ihrer Mutter und deren Familie: Tante Maria, Onkel Rolf und Cousine Katharina. Maria hatte die Nichte wohl nur aus Pflichtgefühl zu sich genommen. Sie behandelte sie gut, aber wenig liebevoll. Rolf stand ganz unter dem Pantoffel seiner Frau und hätte nie gewagt, Tamara herzlicher zu begegnen als sie. Nur Katharina sah den sechs Jahre jüngeren Familienzuwachs eher als Schwester denn als Cousine an.

Ihre Eltern kannte Tamara nur von dem Fotoalbum ihrer Mutter, das zu ihren größten Schätzen gehörte. Aus diesem hatte sie erfahren, dass ihre Mutter noch eine weitere Schwester hatte: Agnes, das jüngste der drei Mädchen. Maria hatte sie nie erwähnt, und als Tamara nach ihr fragte, antwortete sie mit hasserfüllter Stimme: „Mit Agnes haben wir nichts mehr zu tun! Ich will nichts von ihr hören!“

Tamara konnte sich beim besten Willen nicht denken, was vorgefallen war. Auf den Fotos von der Hochzeit ihrer Eltern war Agnes noch inmitten der Gäste zu sehen und stand einmal sogar direkt neben Maria, also musste sie erst später in Ungnade gefallen sein.

Noch ein weiteres Geheimnis schien es zu geben. Zwischen den Hochzeitsfotos befand sich eine leere Stelle, die noch Reste von Klebstoff aufwies. Offenbar war ein Foto entfernt worden. Wer mochte es herausgerissen haben? Und aus welchem Grund? Was mochte auf dem Foto gewesen sein? Tamara wagte nicht, Maria zu fragen…

*

Als Tamara volljährig geworden war, zog sie sofort aus. Maria und Rolf waren darüber spürbar erleichtert. Katharina, die ihr Elternhaus bereits verlassen hatte, half ihr bei dem Umzug in eine kleine Wohnung, die ganz in der Nähe ihrer eigenen lag.

Jetzt war sie frei! Schon lange hatte sie sich für diesen Augenblick etwas vorgenommen. Sie wollte versuchen, Agnes ausfindig zu machen und mit ihr Kontakt aufzunehmen. Vielleicht käme sie dadurch auch dem Geheimnis des fehlenden Fotos auf die Spur.

Tamara hatte keine Ahnung, wo Agnes jetzt wohnte und ob sie noch ihren Geburtsnamen trug. Dieser war zum Glück ziemlich selten. Nach einigem Googeln fand sie tatsächlich heraus, dass es eine Agnes dieses Namens gab, die in einer etwa fünfzig Kilometer entfernten Stadt lebte. Das musste sie sein! Tamara schrieb ihr eine E-Mail und bekam noch am gleichen Tag Antwort:

„Liebe Tamara, wie sehr freut mich Deine Mail! Ich weiß, dass Maria mich hasst, und hätte nie zu hoffen gewagt, einmal von Dir zu hören. Besuche mich bitte sobald wie möglich! Gibt es einen Kuchen, den Du besonders gern isst? Ganz liebe Grüße, Deine (nicht ‚Tante Agnes‘!) Aggi“

*

„Aggi, die Buttercremetorte war herrlich!“ – „Freut mich, Tammi! Es ist ein Rezept meiner Mutter. Also deiner Oma. Die hast du ja leider auch nicht mehr gekannt. Ich bin so froh, dass du mich gefunden hast. Damals, als deine Eltern gestorben waren, hätte ich dich gern zu mir genommen, aber das Jugendamt meinte, Maria und ihre Familie wären besser für dich. Ich war ja alleinstehend und voll berufstätig.“

Nachdem die beiden Frauen den Kaffeetisch abgeräumt hatten, setzten sie sich auf den Balkon, und die Tante begann: „Du erwähntest ja das fehlende Foto. Ich habe hier mein eigenes Album, in dem ebenfalls Fotos von der Hochzeit deiner Eltern sind. Guck mal, ob dabei eins ist, welches du noch nicht kennst.“

Schon nach wenigen Sekunden rief Tamara: „Das! Es zeigt Maria und… zwei Kinder?!?“

Agnes nickte. „Ja. Maria und Rolf hatten nach Katharina noch eins bekommen. Einen Sohn namens Simon. Er starb. Und Maria gibt mir die Schuld daran.“

Erschüttert lauschte Tamara dem Bericht ihrer Tante. „Wahrscheinlich weißt du, dass deine Eltern bei einem Autounfall starben, den ein betrunkener Fahrer verschuldet hatte. Aber man wird dir nicht erzählt haben, dass in ihrem Wagen außer ihnen auch ein Kind zu Tode kam. Nämlich ihr kleiner Neffe Simon.“

„Nein“, stammelte Tamara, „das wusste ich nicht. Ich wusste noch nicht einmal, dass es diesen Simon gab. Und wieso sollst du daran schuld sein?“

„Maria hatte in der Stadt Besorgungen machen wollen und mich gebeten, solange auf Simon aufzupassen. Er war damals drei Jahre alt. Sie, deine Eltern und ich wohnten zu jener Zeit in derselben Straße. Als ich gerade mit Simon im Vorgarten stand, sah ich, dass deine Eltern mit dem Auto wegfahren wollten. Deine Mutter rief mir zu, sie wollten zum See. Wir wussten beide, dass Simon den See liebte. Daher haben wir beschlossen, dass er mitfahren sollte…“ Agnes wischte sich über die Augen.

Tamara nahm sie in den Arm. „Das ist tragisch, aber du hattest absolut keine Schuld daran. Schuld war nur dieser verdammte Betrunkene.“

„Aber Maria sagte, ich hätte auf Simon aufpassen sollen und hätte ihn niemals ohne ihre Erlaubnis anderen übergeben dürfen.“

„Diese anderen waren aber doch auch seine Familie. Im Übrigen: Du hattest ihn meinen Eltern übergeben, um ihm eine Freude zu machen. Maria hatte ihn dir übergeben, um in Ruhe einkaufen zu können. Wenn man hier also überhaupt von Schuld sprechen kann, hätte sie den größeren Anteil. Ich glaube, insgeheim weiß sie das auch und will verdrängen. Sie hat ja alle Fotos von Simon entfernt – auch in der Wohnung ist kein einziges – und mir nie von ihm erzählt.“

„Danke, dass du es so siehst!“ Gerührt drückte Agnes ihre Nichte an sich.

„Übrigens, Aggi, eins wüsste ich gern. Wo war ich eigentlich, als meine Eltern verunglückten?“

„Bei mir. Ursprünglich hatten sie dich mitnehmen wollen. Da habe ich gesagt: ‚Wollt ihr nicht lieber Simon mitnehmen und Tammi bei mir lassen? Simon liebt den See doch so, und Tammi hätte ja noch gar nichts davon…‘“

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Susi56 am 29.08.2021:

Überraschende Wendung! Gut gemacht. 👍🏻




geschrieben von Monika am 30.08.2021:

Das Ende überhaupt nicht vorhersehbar. Gut geschrieben !!!




geschrieben von Christine Todsen am 30.08.2021:

Vielen lieben Dank, Susi56 und Monika! Ich freue mich immer, wenn mir eine wirklich überraschende Schlusspointe gelingt. Mein Vorbild hierbei ist O. Henry, dessen Stories für ihre „surprise endings“ bekannt sind.

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