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2xhab ich gern gelesen
geschrieben 2020 von Christelle (Christelle).
Veröffentlicht: 02.01.2022. Rubrik: Menschliches


Ruhe bewahren!

Diese Geschichte ist rein fiktiv. Auf zahlreichen Busreisen in der Vergangenheit habe ich unterschiedlichste Fahrer kennengelernt, mögliche Eigenschaften und Verhaltensweisen von vielen sind in der Person Peter (manchmal sehr übertrieben) vereinigt. Das Ende der Geschichte, die Corona-Lage, ist frei erfunden

Peter sah mit seinen fast 40 Jahren phantastisch aus. Er war groß und schlank, dennoch muskulös, denn er betrieb in seiner sehr knapp bemessenen Freizeit Kraft- und Ausdauersport in einem Fitnessstudio. Er wollte fit bleiben, denn sein Beruf verschaffte ihm kaum Bewegungsmöglichkeiten.

Denn Peter war Busfahrer. Er liebte seinen Beruf. Für ihn war es eher eine Berufung, mit ca. 50 Reisegästen durch die Lande zu fahren. Leider waren seine Reisegäste meist jenseits der 60, auch die Frauen, was er als Junggeselle manchmal bedauerte.

Aber seine Gäste waren meist freundlich und bewunderten ihn, wenn er den großen Reisebus zum Beispiel durch die schmalen Lanes in Südengland steuerte, ihn zentimetergenau an einem entgegenkommenden Bus vorbei lenkte oder ihn in den Alpen haarscharf an Abgründen entlang steuerte. Dann hielten alle Buspassagiere minutenlang ängstlich den Atem an und applaudierten, wenn er diese brenzligen Situationen wieder gemeistert hatte.

Das waren die Momente, die er an seinem Beruf besonders liebte. „Vor allem muss man in solchen Situationen die Ruhe bewahren“, verkündete er dann großspurig und genoss es, wie seine Fahrgäste ihn ehrfürchtig und bewundernd anschauten.

Überhaupt nutzte er diese Formulierung in vielen Situationen.

In der Mittagszeit warf er seine Bordküche an, nicht ohne vorher abgefragt zu haben, wer von den Gästen etwas essen wollte. Seiner Meinung nach hatte er eine reiche Auswahl im Angebot: verschiedene Suppen, die samt der Dose im Wasserbad erhitzt wurden, Brühwürstchen oder Krakauer mit Senf und Toastbrot. An Getränken gab es Kaffee, Tee, Wasser, Limonaden, Bier, Wein, Sekt und diverse Schnäpse. Das Geschäft lohnte sich für ihn, zumindest auf der Hin- und Rückfahrt einer Urlaubsreise.

Peter managte alles großartig. Flink öffnete er die Dosen, um die Suppen in Plastikbehälter zu gießen, die Würste wurden auf einem Pappteller serviert, Senf und Toastbrot standen zur Selbstbedienung bereit. Um das Essen zu bezahlen, konnten die Gäste € 10,00-Gutscheine erwerben, auf denen Peter die Kosten ihres Verzehrs abhakte.

Eigentlich sollten die Mittagspause und andere Fahrtunterbrechungen auch Pausen für Peter sein, doch er wollte auf diesen lukrativen Nebenverdienst nicht verzichten.

Die Gäste staunten jedes Mal, wie gut organisiert Peter alles regelte. Manche bedauerten ihn, weil er seine Pausen opferte. Peter aß natürlich auch selbst von seinen Köstlichkeiten. Als einer der Gäste fragte, wie er das alles so schnell und reibungslos schaffe, kam seine übliche Antwort.

„Vor allem muss man in solchen Situationen die Ruhe bewahren“, verkündete er großspurig und schlang das Brot herunter, das neben dem Würstchen auf seinem Pappteller lag.

Anschließend verkaufte er Kaffee und legte jedem Becher einen Keks dazu. Die Leute waren entzückt.

Bei Ankunft im Hotel packte er nicht nur die Koffer aus dem Bus, sondern half auch den Leuten beim Tragen. Wenn diese sich vor dem Aufzug drängelten, mahnte er: „Vor allem muss man in solchen Situationen die Ruhe bewahren!“ Das hieß vor allem, nicht zu früh auf den Knopf des vollbesetzten Aufzugs zu drücken, weil die Gäste, die gerade eingestiegen waren, dann nicht in ihre Stockwerke hochfuhren, sondern sich lediglich die Fahrstuhltür wieder öffnete. Immer wieder gab es Leute, die so voreilig waren, sei es vor Aufregung oder sei es, sich ganz schnell frisch machen zu wollen, um als Erster wieder unten beim Abendessen zu sein.

Peter kannte seine Pappenheimer. Deshalb brachte ihn tatsächlich nichts so schnell aus der Ruhe. Aber das wollte er schließlich nicht für sich behalten. Besonders, wenn seine Fahrerkollegen ähnliche Geschichten von drängelnden Fahrgästen erzählten und sich darüber mokierten, entgegnete er auch ihnen: „Vor allem muss man in solchen Situationen die Ruhe bewahren!“

Er nutzte jede Gelegenheit, seinen Lieblingssatz zu verkünden, und ließ damit wissen, was für ein toller Kerl er sei. Seine Kollegen kannten das schon, machten sich insgeheim über ihn lustig und nannten ihn, wenn er nicht dabei war, den „Ruhebewahrer“. Trotzdem mochten sie ihn, denn Peter war ein guter und hilfsbereiter Kumpel.

Auch sein Chef schätzte ihn sehr, so dass er oft und gern für attraktive Reisen eingeteilt wurde. Die Fahrgäste liebten ihn und das äußerte sich in einem großzügigen Trinkgeld am Ende der Reise. Peter bedankte sich dann und machte jedes Mal den gleichen Scherz. Er werde das Geld spenden, verkündete er in seiner großspurigen Art. Die Leute waren beeindruckt, hatten sie doch von Anfang an gewusst, welch nobler Mensch ihr lieber Peter war. Dann kam die Auflösung: Die Spende sollte dem Verein für verarmte Busfahrer zugute kommen, den er, Peter, gegründet hatte und dessen einziges Mitglied er sei.

Das sorgte jedes Mal für Heiterkeit und die Gäste behielten ihn in guter Erinnerung, auch wenn einige als Mehrfachreisende diesen Witz bereits kannten.

In diesem Frühjahr hörte er zum ersten Mal, dass das eigenartige Virus, das vor einiger Zeit in China aufgetreten war und sich rasend schnell verbreitete, in Österreich und Italien angekommen war und dort wütete. Kurz darauf traten erste Krankheitsfälle in Deutschland auf. Peter machte sich keine Sorgen, dass er sich anstecken könne, auch wenn es jemanden seiner Fahrgäste erwischt haben sollte. Schließlich war er jung und gesund.

„Vor allem muss man in solchen Situationen die Ruhe bewahren“, lautete wiederum sein Credo. Und er predigte dies seinen Kollegen, die befürchteten, sich auf ihren Busfahrten anstecken zu können.

Doch er und seine Kollegen bemerkten schließlich, dass die Reisebuchungen weniger wurden und dass sogar bereits gebuchte Reisen von den Leuten storniert wurden. Das bedeutete für alle, dass Reisen wegen zu geringer Teilnehmerzahl nicht durchgeführt werden konnten und sie deshalb auch seltener unterwegs waren.

„Vor allem muss man in solchen Situationen die Ruhe bewahren“, sagte er wieder. Jetzt hatte er mehr Zeit fürs Fitnessstudio, was er ebenfalls ganz gut fand. Ihm fiel allerdings auf, dass dort nicht mehr so viele Leute wie üblich trainierten.

Plötzlich ging alles ganz schnell. Die Regierung erließ Beschränkungen beim Ausgehen, öffentliche Veranstaltungen durften nicht mehr stattfinden, Schulen, Kitas und Theater mussten schließen, schließlich auch sein geliebtes Fitnessstudio.

Die Regierung führte eine Maskenpflicht ein, das hieß, man musste einen Mund- und Nasenschutz beim Einkaufen tragen, egal ob auf dem Wochenmarkt oder im Einkaufszentrum.

Sein Chef musste den Betrieb vorerst schließen, die Busse wurden erstmal abgemeldet und für Peter und die anderen Fahrer Kurzarbeit angemeldet.

Nun gab es für Peter nur noch 60 % seines Grundgehaltes. Kein Trinkgeld mehr und keine Einnahmen durch den Verkauf von Essen und Getränken.
Er blieb zu Hause und ernährte sich von seinen Dosensuppen aus dem Bus. Er wusste auch nicht, wo er hingehen sollte, alle Veranstaltungen waren ja abgesagt.

Gut, dass es WhatsApp gab. So hatte er wenigstens ein paar digitale Kontakte, auch mit seinen Kollegen. Die hatten Familie und damit andere Sorgen. Manche ihrer Frauen arbeiteten in „systemrelevanten“ Berufen, andere Frauen saßen im Home-Office. Damit sie in Ruhe arbeiten konnten, hatten ihre Männer eine ungewohnte Aufgabe übernommen, nämlich sich um das Home-Schooling der Kinder zu kümmern. Sie versuchten, ihr Bestes zu geben, waren aber oft überfordert. Und sie holten sich gegenseitig Rat in ihrer Busfahrer-WhatsApp-Gruppe.

Peter saß allein zu Haus und konnte zum Thema nichts beitragen. Unaufhörlich piepte sein Handy. So sehr er Mitteilungen auf dem Handy auch mochte: die Gruppe seiner Kollegen nervte ihn. Und warum musste man unbedingt diese Anglizismen benutzen? Nicht nur die Kollegen, sondern alle, die er kannte, selbst im Fernsehen hörte er sie. Dabei gab es zahlreiche Möglichkeiten, sich auf deutsch auszudrücken. Warum sagte man nicht einfach Heimbüroarbeit oder Zu-Hause-Unterricht? Er dachte an seinen Lieblingssatz, er hatte nie einen Anglizismus wie „ Keep calm“ oder ähnlich benutzt. Aber vielleicht war er manchen Leuten durch seinen sich ständig wiederholenden besserwisserischen
Rat, die Ruhe zu bewahren, auf die Nerven gegangen. Das war vorbei. Er konnte dem nichts mehr abgewinnen.

Corona hatte ihm seine Grenzen aufgezeigt. Gesundheitlich konnte sie ihm zwar nichts anhaben, wie bei so vielen anderen Menschen, die schwer erkrankten, aber sie hatte seine Großspurigkeit mit ihrer eigenen viel größeren Spur zum Erliegen gebracht.

Corona war vorerst die Siegerin - in diesem Sommer 2020.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Susi56 am 08.01.2022:

Nicht schlecht. Ich würde aber Satzanfänge mit Aber, Auch und Deshalb usw. vermeiden. Das nimmt etwas von der Qualität der Story weg. In der Regel kann man das gut umformulieren. 😊




geschrieben von Christelle am 08.01.2022:

Vielen Dank, Susi56, für den Tipp. Beim nochmaligen Lesen ist mir aufgefallen, dass ich darüberhinaus sehr oft ‚wenn‘, ‚denn‘ und ‚dann‘ benutzt habe, was auch nicht gerade die Qualität der Story fördert. Ich ändere es nachträglich nicht mehr, sondern bekenne „Mut zur Lücke“.

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