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4xhab ich gern gelesen
geschrieben 2022 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 16.02.2022. Rubrik: Spannung


Kommissar Kuhlmann und das Tagebuch aus der Ruine

Kommissar Kuhlmann betrachtete das von einer dicken Staubschicht überzogene Tagebuch, das beim Abbruch eines seit langem leerstehenden Hauses gefunden worden war. Einer der Arbeiter hatte aus purer Neugierde hineingeschaut und dann die Polizei verständigt.

Der Schrift nach musste es vor etwa sechzig Jahren von einem damals noch sehr jungen Mädchen geschrieben worden sein, dessen Name nirgendwo stand. (Dass es ein Mädchen war, erkannte Kuhlmann an grammatischen Formen wie „Ich war die erste“.) Eine einzige Zeile in diesem Tagebuch war der Grund dafür gewesen, dass Kuhlmann es jetzt las. Mitten zwischen anderen Sätzen, im Schriftbild nicht von ihnen zu unterscheiden, stand: „Heute habe ich ihn umgebracht.“

Der Kommissar war unschlüssig, ob er die Sache untersuchen sollte oder nicht. Dies musste er nur dann tun, wenn es ein Mord war (alles andere, zum Beispiel Totschlag, wäre verjährt) und wenn die Schreiberin bei der Tat mindestens 14 Jahre alt, also strafmündig war. Der Schrift nach war sie das möglicherweise noch nicht. Und wenn doch – war es tatsächlich Mord? Er wusste ja nicht einmal, wer umgebracht worden war. Nur, dass es sich um ein männliches Wesen („ihn“) gehandelt hatte. Theoretisch konnte es auch ein Tier gewesen sein. Oder das Ganze war sogar pure Phantasie.

Da Kommissar Kuhlmann – was selten vorkam – nicht viel Dringendes zu erledigen hatte, begann er dennoch mit der Spurensuche. Zufällig kannte er das jetzt abgerissene Gebäude und wusste, dass es ein Einfamilienhaus war und die jeweilige Familie immer für viele Jahre dort gelebt hatte. Aus diesem Grund fand er anhand alter Adressbücher recht schnell heraus, dass es sich bei der Tagebuchschreiberin um eine Hetty Marquardt handeln musste, die heute, falls sie noch lebte, 73 Jahre alt war. Eher aufs Geratewohl schaute er in das heutige Telefonbuch und traute seinen Augen nicht: Hetty Marquardt stand drin! Offensichtlich handelte es sich um das Mädchen von einst, denn dass zwei Frauen in derselben Stadt denselben seltenen Namen trugen, erschien undenkbar. Wie praktisch, dass sie noch (oder wieder?) ihren Geburtsnamen trug.

Nach langem Nachdenken rief der Kommissar sie an. „Marquardt“, meldete sich eine sympathische ältere Stimme.

„Guten Tag, Frau Marquardt. Hier ist Kommissar Kuhlmann –“

„Kommissar?“, unterbrach die Angerufene erschrocken. „Ist was passiert?“

„Nein, nein, ich wollte nur –“

„Gott sei Dank, ich dachte schon, meine Nichte wäre verunglückt. Sie ist auf einer Bergtour, obwohl ich sie davor gewarnt habe.“ Hetty scheint sowohl familienbewusst als auch ängstlich zu sein, dachte Kuhlmann. Wenig wahrscheinlich, dass sie eine Mörderin ist.

„Frau Marquardt, weshalb ich anrufe: Das Haus Gartenstraße 11, in dem Sie vor langer Zeit wohnten, ist abgerissen worden, und dabei wurde ein Tagebuch gefunden. Kann es Ihres sein?“

„Ein Tagebuch? Nein. Ich habe nie eins geführt. Diese Kritzelei war mir viel zu lästig. Wichtiges behält man, und Unwichtiges braucht man nicht aufzuschreiben, oder was meinen Sie?“

Kommissar Kuhlmann stimmte ihr zu und fragte dann: „Wissen Sie denn, von wem das Tagebuch sein könnte? Es scheint rund sechzig Jahre alt zu sein.“

„Vielleicht von meiner Schulfreundin Käthe. Sie hat ein paar Monate bei uns gewohnt, als in ihrer Familie alles drunter und drüber ging. Ihr Vater war gewalttätig. Eines Tages ist er plötzlich gestorben, woran weiß ich nicht. Danach ist sie dann bald wieder zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern zurückgekehrt.“

„Wie alt war Ihre Schulfreundin denn damals?“, fragte Kuhlmann und hoffte, dass sie noch keine 14 gewesen war.

„Das weiß ich im Moment nicht genau… Vor drei Jahren ist sie leider verstorben.“

Ein Glück, dachte Kuhlmann pietätloserweise, drückte aus Höflichkeit aber dennoch sein Bedauern aus. „Ja, Frau Marquardt, dann ist mit dem Tagebuch ja alles geklärt. Danke für das Gespräch! Schönen Tag noch!“

Nachdem er das Telefonat beendet hatte, dachte er angestrengt nach. Dann bat er seine Assistenten, ausfindig zu machen, ob vor drei Jahren in dieser Stadt eine Frau mit dem Vornamen Käthe verstorben war. Und vor rund sechzig Jahren deren Vater („also ein Mann, dessen Familienname mit Käthes Geburtsnamen identisch ist“).

Erst am nächsten Tag kam die Auskunft. „Leider haben wir keine Käthe finden können. Und daher wissen wir auch nicht, wie ihr Vater hieß, falls es diese Käthe überhaupt gab.“

Auweia, dachte Kuhlmann. Ihm kam ein Verdacht, und er googelte nach Hetty Marquardt. Aus dem Internet erfuhr er sodann, dass sie aus Flensburg stammte, aber schon als Kind mit ihrer Familie in seine eigene Stadt gekommen war. Und sie war ausgebildete Schauspielerin…

Kommissar Kuhlmann rief Hetty Marquardt erneut an. „Sie schon wieder?!“ Ihr Ton war jetzt deutlich nervös.

„Ja, Frau Marquardt, aber beruhigen Sie sich. Wir haben inzwischen in dem Tagebuch ein einziges Datum gefunden und ausgerechnet, dass Sie erst 13 Jahre alt gewesen sein können, als es geschrieben wurde. Was auch immer damals geschehen ist, bestraft würden Sie nicht. Die Sache mit der Schulfreundin war eine Erfindung, nicht wahr?“

Hetty zögerte. „Ja“, sagte sie dann. „Das Tagebuch ist von mir. Schon bald nach unserem Auszug bemerkte ich, dass ich es vergessen hatte. Und ich hatte keine Möglichkeit, es mir wiederzuholen. Mir war unsagbar peinlich, dass Fremde meine privatesten Dinge lesen könnten. Für den Fall, dass dies passierte und ich darauf angesprochen würde, hatte ich mir schon früh die Käthe-Geschichte zurechtgelegt und sie auswendig gelernt –“

„Mit der mutmaßlichen Tötung des gewalttätigen Vaters“, warf Kuhlmann ein. „Damit haben Sie sich wohl absichern wollen für den Fall, dass jemand Ihren Satz ‚Heute habe ich ihn umgebracht‘ liest. Haben Sie keine Angst. Nicht nur, weil Sie damals strafunmündig waren, sondern auch, weil Sie meiner Meinung nach kein Tötungsdelikt begangen haben. Ich kenne Ihre Geburtsstadt Flensburg und deren drollige Sprache. ‚Umbringen‘ bedeutet so viel wie ‚nach Hause bringen‘…“

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Christelle am 17.02.2022:
Kommentar gern gelesen.
Spannend mit einem unerwarteten Schluss!




geschrieben von Weißehex am 18.02.2022:
Kommentar gern gelesen.
Hallo Christine, ich finde es immer schön, wie du so kurze Krimis mit verblüffender Auflösung schreiben kannst! LG Weißehex

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