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8xhab ich gern gelesen
geschrieben 2015 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 01.09.2022. Rubrik: Grusel und Horror


Der Irrgarten

„Eigentlich könnten wir mal wieder ein paar Tage Urlaub machen“, meinte Walter und sah seine Frau erwartungsvoll an.

Marita nickte. „Ja, das finde ich auch. Aber nicht so weit weg. Als Kind war ich oft in Bad Salzuflen. Das würde ich gern mal wiedersehen. Kennst du es?“

„Nein. Aber da möchte ich auch nicht hin.“

Walters Reaktion überraschte Marita. Stirnrunzelnd fragte sie: „Was hast du denn gegen Bad Salzuflen, wenn du es gar nicht kennst?“

„Da ist ein Irrgarten“, antwortete Walter knapp. Jetzt war Marita völlig verblüfft. „Ja und? Ich weiß, dass es dort seit einiger Zeit einen großen Irrgarten gibt. In meiner Kindheit war er noch nicht da. Aber wenn er dir nicht gefällt, brauchst du ja nicht reinzugehen…“

„Hör auf!“ Besorgt stellte Marita fest, dass ihr Mann auf das Thema mit immer größerer Abwehr reagierte. Ob er sich als Kind mal in einem solchen Labyrinth verlaufen hatte und davon noch immer traumatisiert war? Sie beschloss, später einmal nachzufragen. Im Augenblick war es wohl besser, das Thema zu wechseln. „Wo möchtest du denn hin, Walter?“

*

Ein ganzer Monat war seitdem vergangen. Die Eheleute hatten ein verlängertes Wochenende am Jadebusen verbracht und auf dem Rückweg ins Ruhrgebiet ihre in Münster studierende Tochter besucht. Jetzt, da der Alltag wieder eingekehrt war, konnte Marita ihre Neugierde nicht länger zügeln. „Sag mal, Walter, erinnerst du dich noch an unser Gespräch über Bad Salzuflen? Warum –“

„Fängst du schon wieder damit an?“ Walters Abneigung war keinesfalls geringer geworden, sondern schien im Gegenteil krankhafte Züge anzunehmen. Marita war tief beunruhigt. „Walter, was ist los mit dir? Hattest du einmal ein schreckliches Erlebnis in einem…?“ Sie wollte das Wort lieber nicht aussprechen.

Ihr Mann schlug die Hände vors Gesicht. „Das Gespenst…“, flüsterte er.

Marita setzte sich neben ihn. „Erzähl mir ruhig alles“, sagte sie sanft. „Ich sage es niemandem weiter. Du hast in einem Irrgarten ein Gespenst gesehen? Wann war das?“

Endlich redete Walter. „Als ich acht Jahre alt war. Es war kein richtiges Labyrinth, sondern der riesige Garten meiner Großtante Hedwig am Niederrhein. Aber weil er mit Bäumen und Sträuchern fast völlig zugewachsen war und dieses Dickicht von schmalen, verschlungenen Wegen durchzogen wurde, nannte jeder ihn Irrgarten. Ich hatte Angst vor ihm und blieb immer in der Nähe des Hauses, wenn wir Tante Hedwig besuchten. Eines Tages jedoch war außer uns auch eine andere Familie mit einem Sohn in meinem Alter dort. Dieser Klaus hänselte mich wegen meiner Angst. Er lief in das Gebüsch hinein, kam anderswo wieder heraus und rief mir zu, ich solle dasselbe tun. Um nicht als Feigling zu gelten, riss ich mich zusammen und…“ Er verstummte.

„Erzähl weiter“, bat Marita.

„Ich ging auf einem schmalen Pfad. Die Bäume und Büsche auf beiden Seiten schienen immer näher zusammenzurücken, und gleichzeitig schien es immer dunkler zu werden. Schließlich sah ich gar keinen Pfad mehr vor meinen Füßen. Inzwischen war es mir egal, was Klaus von mir dachte. Ich wollte nur noch zurücklaufen. Doch als ich mich umdrehte, war der Weg, den ich gegangen war, nicht mehr da! Ringsum war ich von undurchdringlichem Gestrüpp umgeben. Und dann sah ich etwas Weißes, das langsam auf mich zukam und mit tiefer Stimme redete. Die Erscheinung war noch zu weit weg, sodass ich nicht verstand, was sie sagte. Aber ich erinnerte mich plötzlich an ein Gerücht, das ich von einer alten Frau aus Tante Hedwigs Dorf gehört hatte. Hans, Hedwigs Mann, sei nicht – wie allgemein angenommen – im Krieg verschollen, sondern von Hedwig und ihrem damaligen Geliebten umgebracht und im Irrgarten verscharrt worden. Meine Mutter hatte geschimpft, ich solle so einen Unsinn nicht glauben. Doch jetzt kam der Geist näher und näher, und ich war sicher, dass es mein Großonkel Hans war…“

„Und dann?“

„Das nächste, woran ich mich erinnere, war das Gesicht meiner Mutter, die sich über mich beugte. Ich lag auf dem kleinen Rasenstück vor dem Haus. Man hatte mich vermisst und schließlich mit Mühe und Not in der Mitte des Irrgartens gefunden, wo ich wie tot auf dem Boden gelegen hatte. Es war nicht leicht gewesen, mich aus dem Gestrüpp herauszuziehen. Alle waren froh, als ich wieder aufwachte. Abends erzählte ich meiner Mutter, was ich erlebt hatte. Sie sagte: ‚Das hast du alles nur geträumt! Du schliefst ja tief! Und dass Onkel Hans im Irrgarten liegen soll, ist sowieso dummes Zeug. Vergiss das Ganze!‘ Aber ich erinnere mich noch genau an jede Einzelheit…“

„Walter“, sagte Marita, „du kannst es trotzdem geträumt haben. Ich bin sogar sicher, dass du es geträumt hast. Auch in dem besten Labyrinth ist es nämlich nicht möglich, dass Bäume und Sträucher direkt hinter einem zusammenwachsen und den Rückweg versperren. Allein das muss schon ein Traum gewesen sein – und das mit dem Gespenst dann natürlich auch.“

Walter fühlte, wie eine riesige Erleichterung sich in ihm ausbreitete. „Ich glaube, du hast recht. Hätte ich es dir nur schon längst erzählt!“

„Hast du später noch mal etwas von dem Gerücht um Hedwig und ihren Mann gehört?“

„Nein, nie. Ich weiß auch nicht, wer ihr Geliebter war – wenn es ihn denn je gab. Hedwig starb, als ich ungefähr fünfzehn Jahre alt war. Sie war kinderlos und hatte Haus und Garten einem Verwandten vermacht, der als erstes alles Gestrüpp entfernen ließ. Nur ein paar Bäume durften bleiben. Den sogenannten Irrgarten gibt es also nicht mehr.“

Marita strahlte ihn an. „Ich freue mich ja so! Du sprichst ganz normal von diesem Irrgarten. Vorher ertrugst du nicht einmal das Wort.“

„Ja, stimmt! Jetzt, wo du es sagst, fällt es auch mir auf! Durch deine Erläuterung habe ich mein Trauma überwunden. Wie kann ich dir nur danken?“

„Ich wüsste wie! Unseren nächsten Urlaub…“

Walter beendete den Satz für sie: „…verbringen wir in Bad Salzuflen!“

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