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geschrieben 2023 von Stephan Heider (Stephan Heider).
Veröffentlicht: 28.08.2023. Rubrik: Spannung


Proband 0269.b

Die ersten beiden Headshots sahen sehr vielversprechend aus - und gleichermaßen verstörend.

Verrauschte, kurze bewegte Filmfetzen in ein Standbild hinein, wie bei einem Live-Foto-Effekt. Sehr pixelig und surreal, als wären mehrere Filter übereinandergelegt. Der kleine Junge warf gerade einen kleinen braunen Plüschbären auf den weißen Kindersarg, der dort im dichten Regen in das frische Grab abgelassen worden war. Der Junge blieb trotz des heftigen Niederschlags trocken, als befände er sich in einem schützenden Ballon aus unsichtbarer Haut.
Auf dem nächsten Headshot platzte dieser Ballon wie eine Wasserbombe, ergoss sich in massiven Strömen an einem brütend heißen Sommertag in das Grab und formte einen kleinen Regenbogen darüber.
Über das Grab des Jungen mit dem kleinen braunen Plüschbären.
Seine sedierte Mutter, hier im Schlaflabor unter Probandin 0001, weiblich, 39 Jahre, geführt, wälzte sich in ihrem herzzerreißenden Verlustschmerz hin und her und musste im Schlaflabor fixiert werden, damit sich die kalten Sensoren, die diese verschwommenen Standbilder aus dem Kopf einer gebrochenen Frau saugten, nicht ablösten.
Professor Dietmar Lange und seinem Team war es gelungen, die ersten beiden unscharfen Schnappschüsse eines menschlichen Traums aus dem Kopf dieser Frau zu extrahieren, auf einen Monitor zu übertragen und sogar auszudrucken.
Es hätte sich eigentlich in diesem Moment ausgelassene Freude angesichts des sensationellen Forschungserfolges einstellen sollen, doch die meisten im Team starrten gerade wie versteinert auf die beiden Bilder auf dem Splitscreen-Monitor und waren den Tränen nah.

Sechs Monate später war das Team in der Lage, live aus den Gehirnen von bisher 269 freiwilligen Studienprobanden Bewegtbilder mitzuschneiden und auf einer Festplatte zu speichern.
Die euphorisierten Verantwortlichen der Fakultät reichten die Forschungsarbeit Professor Langes dem Nobel-Komitee ein, noch bevor sie abgeschlossen war. Niemand zweifelte daran, den renommiertesten Wissenschaftspreis der Welt zu gewinnen. Was sollte schon spektakulärer sein, als live ganz tief in die Seele von Menschen zu blicken. Ein Quantensprung in der Psychologie. Aber auch in anderen Forschungsrichtungen bahnte sich wirklich Großes an. Kriminologie, Philosophie, Ethik, alternative Medizin.
Bis zu dem Tag, als sie in den Traum von Proband 0269.b, männlich, 51 Jahre alt schauten und fast den Verstand verloren.

269 Freiwilligen hatten sie in die Köpfe geschaut. Träume und Albträume gesehen von Individuen, die bewegungsunfähig litten, endlose Abgründe hinunterstürzten, flogen wie Vögel, triumphierend siegten in persönlichen Herausforderungen, wilden Sex mit viel zu schönen Menschen oder Prominenten hatten, nahestehende Verstorbene wiedersahen, mit offenen Aufzügen in die Stratosphäre fuhren, gegen Monster kämpften, unter Wasser atmeten, etliche Male grauenvoll getötet wurden und wieder heilten.
Alles was die fantastische und furchteinflößende Traumwelt hergab, um seelische Befindlichkeiten abzuarbeiten.
Alles im nebulösen Rahmen dessen, was man auch in etwa erwartet hatte. Und so oder so ähnlich auch von sich selbst her kannte.

Alles änderte sich schlagartig, als sie Proband 0269.b in die REM-Phase versetzten und in glasklarer Qualität auf den Aufzeichnungsmonitoren angezeigt bekamen, dass der Mann, der hier schlief, träumte, wie er sich die Sensoren vom Kopf pflückte, aus dem Versuchsbett aufstand und sich unter exakt den Kollegen des Teams grimmig umsah, die hier gerade real zugegen waren. Den fünf anwesenden Wissenschaftlern stockte im wahrsten Sinne des Wortes der Atem, denn die Szene auf dem Bildschirm aus dem Traum des Schläfers sah nicht nur ungefähr so aus wie die gegenwärtige Realität. Die Mitarbeiter befanden sich exakt an der Stelle des mehrräumigen Schlaflabors, beobachtet aus dem Blickwinkel einer Weitwinkelkamera, die etwas oberhalb von ihnen langsam um sie kreiste. Im Traum des Probanden.

Elsa schaltete als Erste in dieser bizarren, schwer begreiflichen Situation, sie bewegte vorsichtig ihre Finger. Wie von einer Live-Cam gefilmt, passierte es genauso auf dem Bildschirm. Jürgen dachte sofort an einen üblen Scherz von Spaßvogel Thomas Luger. Der Techniker hatte es faustdick hinter den Ohren und wäre locker in der Lage gewesen, das Signal einer Kamera auf die Traummonitore zu legen. Aber wie in Gottes Namen sollte er es schaffen, den schlafenden Probanden auf dem Film, anders als in der Realität, unverkabelt neben seinem Bett stehen und wirklich finster drein blicken zu lassen.
Während das ganze Team ihn seelenruhig schlafend vor sich liegen sah.
Anästhesistin Julia hatte gestern noch zu Elsa gesagt, dass es ihr gruselig vorkäme, Professor Dietmar Lange persönlich zu sedieren und in seine Träume zu schauen. Es fühle sich in ihrem Kopf so falsch an, wie Jesus zu kreuzigen.

„Ach, mach dir keinen Kopf, Julia, der Professor ist ein Vollprofi. Niemand auf der Welt hat sich so tiefgehend mit Träumen und ihrer Wirkung auf uns beschäftigt.“

„Genau das behagt mir nicht, Elsa! Er macht mir schon Angst, wenn er wach ist. Wie er uns manchmal mustert mit dem Blick eines Seeadlers, der gleich Beute machen wird, oder so. Ich möchte nicht wissen, womit sich sein Unterbewusstsein beschäftigt. Möglicherweise ja auch mit uns. Außerdem ist es illegal und gefährdet die Studie, wenn einer der Wissenschaftler auch gleichzeitig Proband ist.“

„Beruhige dich, Julia, das wissen wir doch alle. Forscher auf dem Level bewegen sich auf der berühmten Schwelle zwischen Genie und du weißt schon. Gönnen wir ihm den persönlichen Film seines Unterbewusstseins. Wir schieben ihn einfach irgendwo zwischen mit einer b-Kennung. Eine Ausschuss-Akte. Es wird nie jemand erfahren.“

Nun jedoch wollte Julia die Rausch-Dosis Midazolam sofort herunterfahren, um den Professor erwachen zu lassen, die Situation machte ihr Angst.
Achim, der wissenschaftliche Leiter, gab ihr per Fingerzeig und bösem Blick zu verstehen, es gefälligst zu unterlassen.
Ein Fehler, den die Fünf mit dem schlimmsten Albtraum ihres Lebens bezahlen mussten, obwohl sie hellwach waren.
Jürgen, Elsa, Achim und Thomas hatten sich um die Stelle versammelt, an der auf den Monitoren der Professor und in Wirklichkeit niemand stand. Julia war an ihrem Platz geblieben, um die Vitalwerte des Patienten zu beobachten. Dazu verpflichtete sie ihr ärztlicher Kodex.
Die Anzahl der Bildschirme wuchs im Verlauf der Studie in den letzten Monaten deutlich. Sie waren so verteilt, dass alle im Schlaflabor jederzeit darauf schauen konnten und übertrugen immer dasselbe. Den aktuellen Traum aus dem Kopf des schlafenden Probanden.
Hier ging es um das Mehraugen-Prinzip. Das Team sollte immer parallel auf die Ergebnisse schauen können, um ihre gemeinsame Arbeit auch später besser gegen die Zweifler zu verteidigen. Und die würde es im Kollegium reichlich geben. Kein ernstzunehmender Wissenschaftler gönnte einem Kollegen die ganz große Erkenntnis, bevor er nicht selbst eine hatte. Man würde mit allen Mitteln versuchen die Arbeit zu attackieren. Und das war ja auch das Grandiose an Wissenschaft. Der fortlaufende Versuch, die Ergebnisse zu widerlegen.
Sie hatten zwar 269 Traumsequenzen auf Festplatten gespeichert, nicht aber Videoaufnahmen von sich selbst. Bis jetzt, denn heute war beides exakt dasselbe. Videofile 0269.b, welches gerade live erstellt wurde, beobachtete sie aus dem Hirn von Dietmar Lange. Eine absolute Unmöglichkeit.

Der Professor verharrte regungslos und ließ seinen Blick über die fünf Forscher wandern, die auf die Monitore schielten, um zu sehen, was der Professor in seinem Traum tat.
Achim, der als wissenschaftlicher Leiter dem Professor vielleicht am nächsten stand, zumindest in der Studie, streckte vorsichtig die Hand vor.
Das Angebot eines Handschlages, den es nicht geben konnte. Der Handschlag zwischen einer wachen und einer träumenden Person in einer einzigen Erlebnisdimension.
Das hatten die Beiden abgesprochen, sollte das Ganze funktionieren. Achim hatte bis jetzt nicht verstanden, worauf Dietmar hinauswollte, als er ihm gestern bei einem gemeinsamen Essen versuchte zu erklären, dass heute etwas Außergewöhnliches, ja Bahnbrechendes passieren könne. Jetzt im Moment begriff er, was der Professor andeutete. Lange schob vorsichtig die Hand nach vorne, um die von Achim zu greifen. Und tatsächlich, der Festplattenrekorder zeichnete aus der Traumsicht Langes den Handschlag mit Achim auf, obwohl im Realen Achim nur die Luft schüttelte und Professor Lange einige Meter weiter da lag und fest in Julias Narkose schlief.

Die Hände lösten sich langsam wieder. „Was hast du gespürt?“, wollte Jürgen sofort wissen. Die Stille vor der Antwort zerriss fast die atemlose Spannung.
In Achims Augen glänzte der Moment, den jeder Wissenschaftler herbeisehnte. Die ganz große Entdeckung. Die Kollegen starrten ihn an und konnten kaum an sich halten, der Antwort in wilden Spekulationen vorwegzugreifen.
„Ich habe...“, Achim stockte und rang um Fassung. „Es war unglaublich. Ich fühlte tatsächlich seine Berühru...“
Dann sackten seine Beine weg und Blut spritze weit aus einem langen Schlitz in der Haut seines Halses, die noch vor einer Sekunde geschlossen seine Halsschlagader schützte.
Elsa schrie los wie am Spieß, Jürgen und Thomas warfen sich auf den am Boden zuckenden Achim, um irgendwie die tödliche Blutung zu stoppen.
Nur Julia hatte von ihrer Position am Kopf des schlafenden Dietmar Langes die ganze Zeit die Monitore beobachtet und gesehen, wie der Professor Achims Hand schüttelte und ihm anschließend ohne mit der Wimper zu zucken, die Kehle aufschlitzte.
Ein schockierendes Geschehnis, welches sicher nicht Teil der Absprache war.
Sie hatte paralysiert dabei zugesehen, wie Lange nach dem Handschlag Achim mit einem Skalpell kraftvoll über den Hals fuhr, während die Anderen nur auf Achims Hand in der Realwelt starrten.

Julias Blick sprang, in dem vom Professor losgetreten Chaos, zwischen der kreischenden Elsa, den Männern, die um Achims Leben kämpften und den Monitoren, die anzeigten, was der Professor tat, hin und her.
Sie entschied sich ad hoc, das Sedativum auszuschleichen, um Dietmar Lange in wenigen Minuten wieder erwachen zu lassen.
Dieser stand jedoch in der Sekunde auf dem Bildschirm über ihr, griff an ihren Schädel und fauchte: „Denk nicht mal daran, Schlampe. Du hältst mich sediert, sonst kratzt der Nächste hier ab.“
Julia hatte keine Wahl und spürte, wie sich sein spitzer Daumen in ihre Schläfe bohrte, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen.
Professor Lange hatte einen Weg gefunden, auf der Einbahnstraße in den Traum hinein umzukehren und aus seinem Traum heraus in das wahre Leben einzugreifen. Und den Beweis trat er gerade drastischer an, als die Kollegen Lector, Moreau, Jekyll und Frankenstein es in der Literatur jemals taten.
Achim verblutete schneller auf dem Laborboden, als Jürgen und Thomas blutstillende Kompressen aus Handtüchern, Küchenrollen, Kleidungsstücken und Toilettenpapier heranschaffen konnten. Die beiden brachen ermattet in sich zusammen, als der letzte Herzschlag Achims die pulsierende Quelle endlosen Blutes endlich versiegen ließ.

Julia rief der hysterischen Elsa zu, sie solle ihre Schnauze halten und sich zusammenreißen. Sie tat das nicht, weil sie so besonnen war in der Situation, sie tat das, weil auf den Monitoren zu sehen war, wie der amoklaufende Professor Lange sich auf Elsa zu bewegte, um ihr das Maul zu stopfen.
Ihre Krakeelerei erstickte gurgelnd an dem glatten, schnellen Schnitt durch ihren Kehlkopf und Elsa lief röchelnd aus, wie ein mit Wasser befülltes Bassin, dessen Seitenwände wegbrachen.
Die beiden Männer kauerten wimmernd in einer Ecke des Labors und beteten. Ungewöhnlich für Rationalisten, aber Lange fuhr im Labor rum, wie ein Derwisch und wie sollten sie jemanden stoppen, der in ihrer Welt gar nicht greifbar war.
Als der Professor sie im nächsten Moment wahrnahm und fixierte, wischte er kurz das blutige Skalpell über seinen Oberschenkel. Dann machte er sich auf, um sie von ihrem Leid zu erlösen und einen weiteren unumstößlichen Beweis seiner Genialität zu liefern.
Als er über Jürgen und Thomas stand und mit der Klinge wedelte, stießen die Beiden einen markerschütternden Schrei der Todesangst aus. Dann schnellte Dietmar Langes Arm herab.

Julia schreckte hoch, sie war schweißgebadet und hatte ganz beschissen geträumt. So sehr sie sich auch bemühte, die Erinnerung an den schrecklichen Traum verblasste in Sekunden und verschwand aus ihrem Gedächtnis, wie kalte Flüssigkeit, die sie mit Händen hätte festhalten wollen.
Warum nur hatte sie sich nach dem Tod ihres kleinen Sohnes für dieses Traumexperiment im Schlaflabor heute angemeldet? Was wollte sie denn bloß herausfinden? Weder ihr Ex-Mann Achim, noch Unfallarzt Dietmar Lange, Psychologin Elsa, Pfarrer Thomas oder Pfleger Jürgen hatten ihrem kleinen Jungen helfen können. Er starb letzte Woche im Krankenhaus, wenige Tage nachdem er in die Folienabdeckung des Pools gefallen war und erst nach zwanzig Minuten gefunden wurde. Nichts konnte ihren Jungen zurückbringen. Dietmar Lange hatte ihr emotionslos mitgeteilt, dass er hirntot war.

Was sollten ihre Träume und das messen ihrer Hirnströme da schon zur Verarbeitung ihres Schmerzes beitragen? Sie würde den Termin heute, den Elsa ihr empfohlen hatte, absagen und die Dinge auf sich beruhen lassen.
Julia griff zum Telefon, um das Labor zu informieren, als ihr Blick auf das kleine herzzerreißende Überbleibsel fiel, das ihr von ihrem Sohn blieb.
Der kleine braune Plüschbär lag, vollgesaugt mit Tränen und Alkohol, neben der leeren Flasche Rotwein von gestern Abend auf dem Tisch, auf dem sie mit der Stirn in ihren verschränkten Armen eingeschlafen war.
Er war das Letzte, was sie noch hatte neben ihren Albträumen. Damit würde sie sich abfinden müssen.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Jens Richter am 29.08.2023:
Kommentar gern gelesen.
Hallo Stephan,
Deine Geschichte fand ich echt gut!
Sie war nur ein bisschen schwer zu lesen.
Ich finde, dass Sätze, um eine bessere Lesbarkeit gerade mit den Mobiltelefonen zu erreichen, nicht hintereinander geschrieben werden sollten.
Sondern mit einer neuen Zeile.
Aber das ist schon meine einzige Kritik.
Mit freundlichen Grüßen
Jens Richter




geschrieben von Stephan Heider am 29.08.2023:

Hallo Jens
Danke für deinen netten Kommentar und das Lob für die Story. Ich mag es auch lieber übersichtlicher und versuche deinen guten Rat zu beherzigen.
LG Stephan

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