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5xhab ich gern gelesen
geschrieben 2023 von Peppinsky.
Veröffentlicht: 22.01.2024. Rubrik: Unsortiert


Der Maler

Ich sah ihn zum ersten Mal in dem kleinen Laden in Montmartre, der
sich zwischen dem Friseur und der Apotheke in die kleine
Seitenstraße duckte. Zum ersten Mal in Paris, suchte ich ein
Geschäft, in dem Nähwaren angeboten wurden um meinen abgerissenen
Knopf wieder annähen zu können. Ich fand es, unerwartet, abseits
der großen Boulevards, in dieser kleinen, engen Gasse. Durch das
staubige Fenster sah ich eine Auswahl von Weinen, Feuerzeugen,
vergilbten Zeitschriften und den erhofften Hinweis auf diverse
Kurzwaren. Werbeschilder aus Blech priesen Zigaretten an. Ein
Plakat kündigte eine Kabarettvorstellung an, die allerdings im
letzten Sommer schon stattgefunden hatte.
Es war Spätnachmittag im November, die Gaslaternen bildeten in
regelmäßigen Abständen kleine Lichtinseln im aufziehendem Nebel
und das Kopfsteinpflaster glänzte feucht und spiegelte das Licht
der spärlichen Schaufenster.

Eine helle Glocke erklang, als ich eintrat. Nachdem aus der
geöffneten Tür eine tiefschwarze Katze geschlichen war, die mich
mit großen, grün schimmernden Augen ansah und um meine Beine
strich, um sich dann die Gasse hinunter zu trollen, betrat ich
vollends den Laden. Der alte Mann versuchte umständlich zu
bezahlen, während er das Päckchen mit den Zigaretten und die
Flasche mit dem Wein balancierte. Außer der Frau hinter der Theke
und ihm war niemand sonst im Raum. Der Alte trug einen abgewetzten
Tweedmantel, der an unzähligen Stellen ausgebessert war und seine
Farbe schon seit Jahren nicht mehr besaß; stattdessen hüllte er
ihn in ein ausgeblichenes Grau. Seine Hose war ein Stückchen zu
kurz und seine Schuhe ausgetreten aber sauber, wie frisch
gewienert. Als er es geschafft hatte sein Geld auf die Theke zu
legen, ohne es fallen zu lassen, drehte er sich um und ich sah aus
seinem Mundwinkel eine Zigarette herausragen, die ihm fast seinen
schneeweißen Bart ansengte und einen scharfen, markant riechenden
Rauch aufsteigen ließ. Aus tiefliegenden, dunklen Augen, die von
unzähligen Falten umrahmt wurden, sah er mich an, als er mir
auswich und eine Entschuldigung murmelte. Den Kopf nach vorne
gestreckt, um die Krümmung seines Rückens auszugleichen, ging er
dann an mir vorbei und mein Blick wurde von seiner gebückten
Gestalt gefangen, als er mit hochgeschlagenem Kragen und
zerzaustem Haar hinaus ging. Ich sah ihm durch die offene Tür
nach, als ich von der Dame hinter dem Tresen an meinen Einkauf
erinnert wurde. „Was?“ Ich sah sie irritiert an. „Was ich für Sie
tun kann, sie möchten etwas kaufen?“ „Aber ja, Moment...“ Ich
zählte auf, was ich brauchte und sah dann wieder nach hinten, aber
der alte Mann war weg.

Einige Tage später saß ich in einem Café am Marktplatz. Vor mir
einen Milchkaffee und die Tageszeitung und beobachtete durch das
große Fenster das bunte Treiben draußen. Pferdekarren, beladen mit
Fässern und Kisten, rumpelten vorüber, einige dieser jetzt
modernen Automobile fuhren, Qualm hinter sich her ziehend, den
breiten Boulevard entlang. Elegante Damen und Herren standen vor
Schaufenstern und begutachteten die Auslage. Da sah ich ihn
wieder. Der Alte hatte den gleichen Mantel wie bei unserer ersten
Begegnung an, sein Haar stand immer noch zerzaust vom Kopf ab,
aber unter dem Arm klemmte jetzt eine leere Leinwand. Gebeugt ging
er keine drei Schritte entfernt, auf der anderen Seite des
Fensters, an mir vorbei, als aus einer Toreinfahrt plötzlich eine
Horde Kinder hervor preschte, die sich gegenseitig einen Ball
zukickten. Der alte Mann fand sich unvermittelt in einem Pulk aus
Jungen wieder, die das runde Leder hin und her spielten und dabei
rechts und links an ihm vorbeidrängten. Er kam ein wenig aus dem
Gleichgewicht und die Tasche, die er über der Schulter trug,
rutschte herab und fiel auf den Gehsteig. Er hob sie schnell auf
und setzte seinen Weg fort. Zurück blieb ein Päckchen. Es musste
aus der Tasche gefallen sein und jetzt lag es dort mitten auf dem
Trottoir. Ich stand sofort auf um es ihm hinterher zu bringen.
Doch zuerst musste ich dem Kellner, der anscheinend nicht viel
Vertrauen in mich hatte, meine Rechnung begleichen. Lange Sekunden
verstrichen, bevor ich endlich auf die Straße hinaustrat und nach
dem Päckchen Ausschau hielt. Hatte es schon jemand gefunden und
mitgenommen oder ihm im besten Fall hinterhergetragen? Vielleicht
lag es schon zertreten im Rinnstein? Zuerst konnte ich es durch
das Gedränge nicht sehen, entdeckte es aber kurz darauf. Es lag
immer noch unbehelligt am gleichen Platz, niemand hatte es weg
gestoßen oder war unachtsam drauf getreten. Ich nahm das kleine
Päckchen an mich und lief ihm hinterher.

Ich sah gerade noch, wie er um eine Ecke verschwand und
beschleunigte meine Schritte um ihn einzuholen. An der Ecke
angekommen, bog ich ein und sah ihn ein ganzes Stück voraus gehen.
Ich hätte ihn mit Leichtigkeit einholen können, aber ich war
neugierig darauf, wo er hinging und so hielt ich einen
gleichbleibenden Abstand und folgte ihm weiter. Nach einigen
Wendungen bekam ich Sorge, den Weg zurück nicht mehr zu finden, er
führte mich mit jeder Abzweigung immer weiter weg von den
Hauptstraßen in die engen, dunklen Gassen von Paris. Die
Schaufenster wurden weniger um den Häusern Platz zu machen, die
die nicht betuchte Bevölkerung beherbergten. Auf Balkonen saßen
Menschen, die sich mit ihren Nachbarn nebenan unterhielten, Pastis
tranken und rauchten. Dieser Teil der Stadt war mir völlig
unbekannt und ich war erstaunt über dieses völlig andere Paris,
als jenes, welches ich von Berichten her kannte. Der alte Mann
hatte mich nicht bemerkt und es ging weiter und die Häuser wurden
dunkler und die Mauern rissiger. Straßenlaternen wurden seltener
und im Kopfsteinpflaster der Straßen fehlten immer mehr Steine.
Fast eine halbe Stunde ging ich nun hinter ihm her, immer darauf
bedacht nicht entdeckt zu werden. Langsam kam ich mir lächerlich
vor und beschloss aufzuholen und ihm sein Päckchen zu geben und
diese düstere Gegend verlassen zu können. Dann war er weg. Mein
Puls ging schneller und mein schlechtes Gewissen stellte sich ein,
hatte ich die Chance vertan ihm sein Eigentum zurückzugeben? Wenn
ja, war es für ihn ein großer Verlust? Ich hatte ja keine Ahnung,
was ich da mit mir herumtrug. Ich musste ihn also finden, in jeden
Hauseingang, in jeden Hinterhof musste ich sehen, aber nirgendwo
war der Alte. Mittlerweile konnte ich kaum die Ziffern auf meiner
Taschenuhr erkennen. Es war von mir unbemerkt immer dunkler
geworden und langsam verschmolz die Umgebung mit der aufkommenden Dunkelheit. Ich versuchte mich zu orientieren, aber ich hatte mich auf der Suche nach ihm zu oft um mich selbst gedreht und war planlos hin und hergelaufen.

Aus den Fenstern rechts und links der
Gasse sickerte trübes Licht auf feuchte Steine, Nebel kam auf und
verschluckte immer mehr der Geräusche um mich herum.
Hecktisch drehte ich mich um und entdeckte eine Tür. Sie stand
leicht offen und das Licht im Raum verlieh ihr einen golden
schimmernden Rahmen. Als ich näher kam, bemerkte ich einen Geruch,
der mir bekannt vorkam. So roch die Zigarette des Alten, als ich
ihn in dem kleinen Laden traf. Ein abgegriffener Klopfer saß in
der Mitte der Tür und als ich ihn betätigte hörte ich den Mann:
„Moment!“ Schritte in der Diele kamen näher, „Ich komme schon!“ Er
sah mich an: „Ja bitte, wer sind Sie, was wollen Sie?“ fragte er
mit einem Ton in der Stimme, der mir klarmachte, dass ich ihn zu
einem äußerst unpassenden Zeitpunkt störte. Er machte auf mich
einen etwas fahrigen, verwirrten Eindruck, so als ob er etwas
suchte. Aus seinem besorgtem Gesicht schauten mich feuchte Augen
an, war er im Begriff zu weinen?
Aber natürlich, den Grund für seinen Zustand trug ich in meiner
Tasche. „Guten Abend Monsieur, mein Name ist Shelby, Arthur Shelby
und ich bringe ihnen etwas, das Sie vorhin haben fallenlassen.“
Beim Anblick des kleinen Päckchens wandelte sich sein
Gesichtsausdruck von Traurigkeit schlagartig in reine Freude.
Jetzt flossen wirklich Tränen, aber vor Glück. „Kommen Sie rein,
kommen Sie rein! Hier, hier entlang, kommen sie nur!“ Ich folgte
ihm durch einen langen Flur zu seiner Küche. Auf Grund seiner
abenteuerlichen Erscheinung hätte ich nie so eine saubere und
aufgeräumte Küche erwartet. Töpfe standen ordentlich auf dem Herd,
Tassen und Teller befanden sich an ihrem Platz im Regal. Eine
Tischdecke bekleidete den kleinen Tisch mit den beiden Stühlen.
Auf der Anrichte stand eine Kaffeekanne, ein Zuckerdöschen und ein
Milchkännchen ordentlich auf einem Silbertablett. Alles war
abgegriffen und stellenweise verschlissen, aber kein Krümelchen
lag herum, kein Teller war ungespült. „Nehmen Sie Platz“, sagte
er. Aus einer Ecke schlich die Katze näher, die ich ebenfalls
zuvor in dem kleinen Laden gesehen hatte, sie gehörten also
zusammen. „Das ist Minou“, sagte er und kraulte ihren Hinterkopf.
Als ich mich hinsetzte und sein Päckchen auf den Tisch stellte,
streckte er die zitternden Hände aus und nahm es ganz vorsichtig
auf, so als könne es bei zu starker Berührung verschwinden, als ob
es gar nicht da gewesen wäre. „Sie wissen nicht, welches Glück es
ist, dass Sie diese Schatulle gefunden haben.“ Er zerriss das
Einschlagpapier und hervor kam tatsächlich eine kleine Schatulle
aus angelaufenen Silber. Er stellte sie zwischen uns und öffnete
sie langsam, fast zögerlich, um nicht doch noch enttäuscht zu
werden, weil sie leer sein könnte. Seine Züge entspannten sich,
als er den Deckel vollends zurückschlug und auf einem rotem
Seidenkissen ruhte ein Medaillon mitsamt goldener Kette. Minou
sprang auf seinen Schoß und ließ sich wieder hinter den Ohren
kraulen wobei sie Schnurrte wie eine Nähmaschine. Ihre grünen
Augen ruhten auf mir, als wäre es das selbst verständlichste, dass
ich an ihrem Tisch saß. „Dieses Medaillon gehörte meiner Frau, ich
habe es abgeholt, um es wieder nach Hause zu bringen.“ Ich sah ihn
an: „Wieder nach Hause?“ „Es ist mir peinlich, aber ich habe es
beliehen und heute gerade rechtzeitig wieder ausgelöst, meine
Mathilde hätte es mir nie verziehen, wenn ich es verloren hätte.“
Seine Hand nahm die meine: „Gilbert Rochefort heiße ich und ich
bin Ihnen zu ewigen Dank verpflichtet, Sie bleiben auf einen Tee?“
Ich nahm die Einladung gerne an und er erzählte mir, dass seine
Mathilde vor zehn Jahren von ihm gegangen war. Er goss uns einen
herben, heißen Tee ein und ich erfuhr, dass er in dieser Wohnung
fast Fünfzig Jahre lang eine glückliche Ehe gelebt hatte, nur er
und seine Mathilde. Kinder wollten sich zwar nicht einstellen,
aber die beiden waren sich gegenseitig genug. Genussvoll zog er an
seiner Zigarette während er weiter erzählte. Sie erzielte ein
solides Einkommen mit Näharbeiten und er konnte sich ganz seiner
Malerei widmen. Sogar mit einigem Erfolg. Immer wenn es nötig war,
fand sich ein Käufer für ein oder mehrere Werke von Ihm und so
ging es ihnen beiden stets gut. Das Medaillon, das ich fand, war
ein Geschenk an seine Frau und er hatte es wegen ausbleibenden
Käufern versetzen müssen. Jetzt aber war es wieder bei ihm und er
würde sich nie wieder von ihm trennen. Wir redeten den ganzen
Abend und ich war dankbar, dass er die Tatsache nicht ansprach,
dass ich doch wohl eine ganze Zeit hinter ihm her gegangen sein
musste, ohne ihn einzuholen. Wir wechselten zu Wein und er zeigte
mir sein Atelier. Minou strich um seine Beine, als wir den Raum
betraten, Gemälde von Landschaften standen umher, Bilder vom Meer,
so detailliert gemalt, so dass man die Brandung geradezu hören
konnte und Porträts berühmter Leute und solchen, die ich nicht
kannte; aber nicht minder ausdrucksstark gemalt. Und immer wieder
Mathilde.

Mathilde am Strand, Mathilde nachdenklich, Mathilde am Küchentisch
und auf dem Sofa. Es waren bestimmt zwei Dutzend Ölgemälde,
Kreidezeichnungen oder Aquarelle von ihr in verschiedenen Posen.
Ich konnte anhand der Bilder eine Entwicklung ausmachen, auf dem
einem Bild war sie jung, vielleicht keine zwanzig Jahre alt, auf
dem nächsten eine reife Frau. Eines zeigte sie in sportlicher
Kleidung mit einem Tennisschläger, ein anderes aus dem Fenster
schauend. Immer wieder malte er sein Lieblingsmotiv: die Liebe
seines Lebens im Wandel der Zeit. Das vorletzte Bild zeigte
Mathilde in einem Kleid in sommerlichen grün auf einer weiten
Wiese, den Kopf verträumt leicht zur Seite geneigt und mit einer
Hand über die langen Grashalme streichend. Das letzte Bild zeigte
sie ebenfalls im hohen Gras, jetzt allerdings kam sie dem
Betrachter lächelnd mit ausgebreiteten Armen entgegen. Der Wind
wehte durch ihre tiefschwarzen Locken und spielte mit ihrem Kleid,
während die langen Halme sich bogen.
Auf der Staffelei in der Mitte des Raumes Stand ein Bild mit einem
Laken verhüllt. „Dieses Bild ist noch nicht vollendet“, sagte er,
„bevor ein Bild nicht fertig ist, darf es niemand außer mir sehen.
Ich habe das Bild in meinem Kopf und wenn es jemand vor Vollendung
sieht und mir seine Meinung erzählt oder Vorschläge macht, wie es
weiter zu gestalten sein könnte, dann ist es beschädigt. Ich habe
es dann nicht mehr vor meinem Auge so wie es sein sollte, so wie
ich es mir in meinen Gedanken erschaffen habe, also lasse ich es
niemanden vorher sehen, selbst meine Frau nicht.“ Er lächelte
verlegen ob seines langen Monologes und zündete sich eine weitere
Zigarette an. Er kraulte Minou hinter den Ohren und sie dankte es
ihm mit einem wohligen Schnurren. „Manchmal habe ich das Gefühl,
Mathilde wäre noch hier, als ob sie mich niemals wirklich
verlassen hätte.“ Seine Augen waren ein wenig gerötet, als sein
Blick auf dem letzten Bild lag. Es war spät, als ich den Weg zu
meinem Hotel antrat, nicht ohne das Versprechen gegeben zu haben,
ihn wieder zu besuchen, sollte ich in der Gegend sein.
Wenige Wochen später war es tatsächlich soweit, mein Dienstherr
schickte mich wieder nach Paris, einige Aufgaben für ihn zu
erledigen. Natürlich erinnerte ich mich an die Einladung von
Monsieur Rochefort, hielt es aber für keine gute Idee ihn noch
einmal zu belästigen, schließlich kannten wir uns kaum und die
Bitte ihn wieder zu besuchen entsprang wahrscheinlich nur aus
seiner Freude über das zurückgebrachte Medaillon.

Drei Tage vor meiner Abreise kam ich jedoch wieder an dem kleinen
Geschäft vorbei, in dem wir uns zuerst getroffen hatten und nach
kurzem zögern kaufte ich zwei Flaschen Wein, um am Abend doch noch
zu einem Besuch bei ihm aufzubrechen.
Rochefort winkte mich herein und war sichtlich erfreut mich in
Begleitung eines guten Weines wiederzusehen. Schnell wechselten
wir zu einer vertraulicheren Anrede mit unseren Vornamen und
verbrachten einen weiteren Abend in gemütlicher, wenn auch etwas
melancholischer Atmosphäre. Gilbert bekam Auskünfte über mein
Leben, welches als verheirateter Mann und Vater zweier Kinder ehr
unspektakulär war. Sein Leben hingegen war einzig und allein der
Malerei gewidmet. Da Gilbert seine Kunst zu jener Perfektion, die
auch Käufer anlockte, gebracht hatte, konnte er Mathilde und sich
diese Wohnung in Paris erlauben. Durch die Näherei seiner Frau
konnten die beiden sogar die ein oder andere Reise antreten. Jedes
Mal kehrten sie zurück, mit einem Bild von seiner Frau im Gepäck,
welches sie an jenem Ort zeigte.
Vor zehn Jahren dann raubte das Schicksal ihm seine Mathilde. Nach
einer kurzen, schweren Krankheit starb sie und ließ ihn alleine
und gebrochen zurück. Seitdem lebte er weiterhin in ihrer
gemeinsamen Wohnung und achtete sehr darauf, dass es immer sauber
und aufgeräumt war, genau so, wie sie es gerne hatte. Ungefähr zum
gleichen Zeitpunkt trat dann Minou in sein Leben, als sie eines
Tages wie selbstverständlich durch die Tür herein spazierte und
sich auf Mathildes Lieblingssessel legte. Gilbert war im Grunde
sehr erfreut über Gesellschaft und ließ ihr den Sessel, der fortan
Minous Lieblingssessel wurde. Die beiden wurden unzertrennlich.
Minou leistete ihm Gesellschaft und begleitete ihn sogar
gelegentlich bei Spaziergängen. So lebten die beiden mittlerweile
ein Jahrzehnt zusammen und wenn sie ihn nicht begleitete, dann
wartete sie auf ihn, dösend auf den Polstern.
Er erzählte die halbe Nacht hindurch und wieder wurde es spät und
wieder versprach ich wiederzukommen.

Als ich ein halbes Jahr später wieder in die Gasse einbog, freute
ich mich auf einen weiteren weinseligen Abend. Aber etwas war
anders. Die Tür stand offen und die Concierge fegte eifrig eine
Staubwolke aus dem kleinen Eingang. Ich kam näher und ein ungutes
Gefühl beschlich mich. „Guten Abend Madame, ist Monsieur Rochefort
zu Hause?“ „Monsieur Rochefort? Sie wissen es nicht?“ Eine böse
Vorahnung schlich mir den Rücken herauf, „Pardon, was weiß ich
nicht, Madame?“ „Er ist tot, gestorben letzte Woche, lag in seinem
Bett, als ich ihn fand.“ Ungerührt fegte sie weiter Staubwölkchen
vor sich her und hinaus. Bewegungslos stand ich dort, unfähig
diese Information anzunehmen. „Monsieur?“ „Ja…“ Ich zog die Luft
ein, „darf ich hinein? Ich habe bei meinem letzten Besuch etwas
vergessen.“ Sie sah mich misstrauisch an, aber der Wein in meiner
Hand schien mich tatsächlich als Besucher auszuweisen,
„Meinetwegen, es ist noch alles da, da gibt’s keine Angehörigen,
die irgendwas abholen können. Wandert eh´ alles auf den Müll.“ Sie
trat beiseite und ließ mich eintreten. Als ich die Küche betrat,
weinte ich um ihn, da stand der Tisch, an dem wir gesessen und
getrunken hatten, da stand der Sessel von Minou. Wo war Minou?
Wahrscheinlich längst weggelaufen. Ich trat in sein Atelier, wo
mich Mathilde ansah, Mathilde am Strand, Mathilde auf der Wiese
mit offenen Armen.

Daneben auf der Staffelei stand noch immer das Bild, an dem er
gearbeitet hatte, noch immer verdeckt. Langsam sah ich meine Hand
sich auf das Laken zubewegen. Ich hob eine Ecke an und behutsam
legte ich sein letztes Bild frei. Mir stockte der Atem.
Wieder Mathilde auf der großen Wiese. Aber diesmal mit Gilbert
zusammen. Mathilde und Gilbert in einer innigen Umarmung, sich
liebevoll in die Augen sehend. Ich wischte eine Träne weg, „nun
endlich wieder vereint“, sagte ich leise.
Als ich wieder hinaus, auf die Straße trat, da strich etwas um
meine Beine, „Minou? Bist du das?“ Ich hockte mich hin und
streckte ihr die Hand hin, aber die Katze blieb gerade außerhalb
meiner Reichweite. Sie sah mich mit ihren grünen Augen an, als ob
sie mich erkannte und es war, als wollte sie sich verabschieden.
Sie drehte sich um, warf noch einen Blick zu mir zurück und ging
die Gasse hinab.

Aus einer Lücke im Zaun glitt ein schneeweißer Kater auf die
Straße. Er blickte zu mir herüber und schloss sich dann Minou an.
Kurz berührten sich ihre Nasen und zusammen setzten die beiden
ihren Weg fort.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

Einen Kommentar schreiben

geschrieben von Endzeit Rockers am 23.01.2024:
Kommentar gern gelesen.
Vor 30 Jahren wieder gefunden und jetzt endlich mal zu Ende gebracht. Geil :D
Find ich gerade lustig.
Das ist es mir Wert die Gesch. heute Abend mal zu lesen.
Bis später.




geschrieben von Jens Richter am 23.01.2024:
Kommentar gern gelesen.
Hallo Peppinsky,
Deine Geschichte fand ich richtig gut.
Sie hat mich irgendwie an alte Geschichten und Filme erinnert wie "Der englische Patient" oder "Das Phantom der Oper".
Ich kann sehr gut nachfühlen, dass man Texte, die man vor Urzeiten begonnen hat, irgendwann zu Ende schreiben möchte.
Und wenn Dir dann so eine tolle Geschichte als Einstieg gelingt, dann hast Du alles richtig gemacht...
Sehr gern gelesen.
Viele Grüße aus Dresden, Jens




geschrieben von Endzeit Rockers am 23.01.2024:
Kommentar gern gelesen.
Wäre eine schöne Folge für eine Serie.
Hat sich gelohnt, die Sache zu Ende gebracht zu haben.
Eine sehr feine Aussprache und Wortwahl.
Hat mir gefallen.
Auch der Flair der Französischen Kulisse.

Für eine Roman Geschichte, die wohl nie jemand lesen wird, habe ich 15 Jahre gebraucht. Komprimiert, 9 Monate arbeit. Aber für den eigenen Seelenfrieden, war das dennoch wichtig, es zu Ende gebracht zu haben.
Deswegen musste ich heute auch etwas lachen, wenn das jemand gleich mal um das doppelte geschlagen hat. 30 Jahre Mottenkiste. Mannomann. :)

Am Meisten schreibt man zu sich selbst.
Weil man wohl auch verarbeitet.
Und als Leser muss man sich selbst auch immer wieder finden, damit man sich damit identifizieren kann. Nur dann wird es spannend.

Du solltest also weitere Geschichten zu Ende bringen.
Soweit noch welche Vorhanden.
Oder neue beginnen.





geschrieben von Christelle am 25.01.2024:
Kommentar gern gelesen.
Hallo Peppinsky, deine Geschichte hat mich sehr berührt. Ich fand es toll, wie du die langsame Entwicklung eurer Freundschaft geschildert hast.
Ich wollte diesen Beitrag erst wegen seiner Länge gar nicht lesen, aber als ich damit anfing, hat er mich so in seinen Bann gezogen, dass ich nicht mehr aufhören konnte. Deine Art zu schreiben finde ich darüber hinaus sehr kurzweilig. Vielleicht hast du ja noch weitere Texte in der Schublade, die du vollenden könntest. Grüße von Christelle

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