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1xhab ich gern gelesen
geschrieben 2024 von Stephan Heider (Stephan Heider).
Veröffentlicht: 26.03.2024. Rubrik: Unsortiert


Drangsal mit falscher Hüfte und Kirschstreusel

-Diese Geschichte ist meiner Freundin Irene gewidmet. Sie soll sie in gewissen Momenten trösten und amüsieren.-

Edgar saß am Küchentisch auf seinem Posten wie ein Grenzspäher des Geheimdienstes. Den Platz, von dem er durch das blitzblank und streifenfrei gewienerte Fenster das Treiben seiner nutzlosen Nachbarin bespitzeln konnte, hatte er penibelst ausgerichtet. Die etwas schräge Stellung der Tischgruppe in der Küche konkurierte zwar mit seinem Ordnungsfimmel, ließ sich jedoch nicht verhindern, wenn Edgar rein gar nichts verpassen wollte.
"Richtiger Blickwinkel" schlägt "rechten Winkel." Auch wenn ihn diese Ambivalenz schon fast körperlich schmerzte. Bei Besuch schob er es schnell in die Korrektheit, die den guten Schein wahrte, ehrenwert zu sein.

Er blätterte grimmig durch die prallen Schlagzeilen seiner
Boulevard-Tageszeitung, die nur dazu taugte Tonnen von Papier zu verdrecken und nicht einen einzigen Artikel anbot, der das Mindestmaß an journalistischer Qualität gehabt hätte, um auch nur einem dürren pickeligen Teenie ein Stück der Welt zu erklären.
Edgar lud sein tägliches Weltwissen und eine gefestigte Meinung aus den prächtigen Überschriften, die schon die gewünschte Denkweise vorgaben.
Nämlich die Edgars dieser Republik an Simplifizierung zu gewöhnen. Schwarz und Weiß. Gut und Schlecht. Ich oder die Anderen. Ein prächtiges Geschäftsmodell.

Dazwischen lag ein für Edgar komplexes und furchteinflößendes Vakuum zwischenmenschlicher Interaktion.
Die Bedürfnisse seines Gegenüber zu erfragen, erspüren, ertasten und zu berücksichtigen. Die schwierigste aller Disziplinen, für die es keinen Rahmenlehrplan gab. Erlernbar nur durch Eltern, Geschwister, Freunde und Glück bei der Sozialisierung. Kein Schulfach und dennoch die wichtigste Lektion des Lebens. Empathie!
Die Zahl der Sechser-Kandidaten in dem Bereich lag in Deutschland im höheren zweistelligen Prozentbereich.

Auch im Rahmen der Familie, Nachbarn und Arbeitskollegen, die man sich im Gegensatz zu Freunden natürlich nicht aussuchen konnte, gab es eine Vielzahl an Menschen, die im Laufe ihres Lebens in unerschütterlicher Selbsterkenntnis in die Gesellschaftsform der "Ich-AG" konvertiert waren. Dass jemand vor ihnen verschont blieb, war fast unmöglich.

Wir sind abgeschweift, zurück zu Edgar.

Die Nacht war schlecht, seine Frau Edith hatte wieder einmal seinen Bammelmann außer Acht gelassen, obwohl Edgar ihn gestern Nacht halbsteif an ihr gerieben hatte. Das ging jetzt schon ewig so. Edgar hätte sie am liebsten am Schopf gepackt und ordentlich geknattert, jedoch wusste er nicht, ob er einerseits überhaupt noch funktionierte und andererseits Edith ihn nicht wieder schlagen würde.
Der Koffer von Frau war so kräftig, dass Edgar in ihr seine botte Mutter vor sich sah. Die Hiebe. Diese Angst. Edgar hatte es in seinen Seelenkeller runtergeschluckt, doch Edith brachte ihn regelmäßig zum Aufstoßen mit ihrer unberechenbaren Art.
Eine Ohrfeige hier, ein Tritt da. Er wusste, dass er Edith nervte. Und sie nervte ihn eigentlich auch.

Nach außen lebten sie ihre Rollen andersrum, sowie es die Gesellschaft erwartete. Edgar pflegte als starker Kerl einen rauen Ton mit Edith beim Grillen, wenn einige wenige Freunde mal zu Gast waren, um kaum nach Abschließen der Tür zur Zielscheibe ihres aufgestauten Zornes zu werden. Diese und andere Unzulänglichkeiten konnten sicherlich als Erklärungsansatz für seine Komplexe dienen, in keinster Weise jedoch als Rechtfertigung. Das wusste Edgar natürlich nicht und er dachte auch nicht darüber nach.

Nun aber saß er am Küchentisch und hob den Kopf, da eine Bewegung seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit auf sich zog.
Die Nachbarin begab sich an diesem schönen Samstag Nachmittag in den Garten, um in der nachlassenden Sonne ihr Buch zu genießen. Ein Buch, in dem es um menschliches Miteinander, um Abgründe und seelische Verletzungen ging und das ein Freund von ihr geschrieben hatte. Allzu gerne wünschte sie sich eine Edgar-Geschichte darin, die sie in Momenten wie diesem trösten würde.

Der Moment, auf den Edgar gewartet hatte. Zeit den Schwingschleifer anzulassen. Nicht um irgendetwas zu schwingen oder zu schleifen. Hier ging es um Maßregelung. Diese Frau, diese Nachbarin gehörte einsortiert in das Periodensystem seines Kastendenkens. Sie konnte und durfte nicht über ihm stehen. Nicht einmal auf gleicher Höhe. Die Nachbarin hatte keine Chance, denn Edgar und Edith fuhren seit geraumer Zeit schwere Geschützte auf. Baum schneiden, Zaun streichen, Dachrinne und Terrassendach reinigen, vor der Garage Unkraut entfernen. Die Duldung ihrer Nachlässigkeiten, die es im Übrigen nur in ihrer Fantasie gab, war für Edgar und Edith undenkbar.

Fast täglich fand die Nachbarin Briefe in ihrem Postkasten, in denen sie aufgefordert wurde, gefälligst ihren Pflichten als Bürgerin und Anwohnerin nachzukommen, um ihr Grundstück in Edgars und Ediths Augen ansehnlich zu machen.
Ansonsten drohten Anzeige und Gerichtsverfahren als Ultima Ratio, das wollte doch sicherlich niemand.

Eigentlich pfiff die Nachbarin auf die Pesterei, aber tief im Inneren machte es etwas mit ihr. Traurigkeit und Nachdenklichkeit nahmen ihrer Lebensfreude Raum weg und das erzeugte Wut, denn eigentlich fühlte sie sich sehr wohl in ihrem Haus. Wenn es nur diesen verdammten Edgar mitsamt seiner Tusnelda nicht gegeben hätte.

Eine Woche darauf kratzte Edgar das Unkraut aus den Pflasterfugen vor der Garage, so wie jeden Samstag.
Seinen neuen Daimler hatte er zuvor herausgefahren und mit der Hand gewaschen, obwohl es eigentlich verboten war. Was juckte es Edgar, er durfte tun und lassen, was er wollte.
Die Automatik seines Neufahrzeuges war ihm noch etwas ungewohnt, da er immer Schaltwagen fuhr, schon aus Prinzip. Bis die Schlagzeile im Autoteil seiner Lieblingszeitung ...

"Automatik oder Schalter?...Ganz klar ersteres!"

... ihn von jetzt auf gleich vom Gegenteil überzeugte. Und natürlich hatte er es schon immer gewusst.
So richtig hatte sich Edgar aber noch nicht an die Fahrstufen seines Benz gewöhnt und so kam es dazu, dass er vor dem Einfahren des Wagens eigentlich noch stehen wollte und sein linkes Bein noch draußen hing, während der Rest von ihm bereits im Wagen saß. Edgar war nachher von einem technischen Defekt überzeugt, jedoch stellte ein Gutachter später fest, dass er sich einfach dumm angestellt und versehentlich die Fahrstufe D eingelegt hatte.

Als Edgar aufsah, war der stolze Stern auf der Haube bereits in die Garage zurück gerollt. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder und reflexartig stieg er mit voller Wucht mit dem rechten Fuß auf das Bremspedal. Genau richtig, denn sein linkes Bein hing ja noch aus der offenen Fahrertür, die bereits kurz vor dem Torrahmen angekommen war.
Genau richtig, wenn man denn auch das richtige Pedal da unten trifft.

In diesem Moment nahm sich Käpt'n Karma da oben Zeit, um E. + E. einmal für ihr mieses Verhalten gegenüber ihrer Nachbarin zu bestrafen. Edgar latschte versehentlich voll aufs Gas und ab ging die lustige Fahrt.
Kurz, aber nachhaltig.
Als erstes brach Edgars Unterschenkel krachend unter dem Druck der zuschnappenden Fahrertür. Dann brach der Daimler mit einem ohrenbetäubenden Knall durch die Rückwand der Garage und als letztes brach er Ediths rechten Oberschenkelhals.
Sie hatte gerade hinter der Garage Unkraut gejähtet. Pech für sie.

Dann war es eine Zehntel Sekunde still, bevor das Geschrei und Gejammer der Beiden losbrach.

Die Nachbarn liefen zusammen und betrachten mit offenen Mündern das Chaos, das Edgar angerichtet hatte.
Es war die verhasste Nachbarin, die sich als erste erbarmte und mit einem ganz leichten, kaum sichtbaren Lächeln in den Mundwinkeln den Notruf absetzte.

Jetzt würde es eine lange Zeit wundervoll ruhig werden in der Siedlung.

Im Krankenhaus angekommen, bekamen Edgar und Edith ersteinmal etwas gegen die Schmerzen. Sie wurden geröntgt und die Lernschwester legte die beiden Akten an. Edgar wurde zuerst operiert und bekam seine neue künstliche Hüfte.
Dann holten sie Edith herein und staunten nicht schlecht, als sie das OP-Tuch vom linken Bein zogen und dort gar kein Bruch des Unterschenkels zum Vorschein kam.

Man könnte die Blicke der Ärzte wohl als recht sparsam bezeichnen, als sie merkten, dass die Lernschwester die Akte: E. Müller mit der Akte: E. Müller versehentlich vertauscht und an die jeweils falsche Transport-Trage gesteckt hatte.

Edgar wachte mit zwei lädierten und reparierten Beinen auf und es dauerte lange bis sich sein dummer Gesichtsausdruck wieder normalisierte nach der Erkenntnis.

Während Edgars und Ediths Abwesenheit hatte die Nachbarin viel Zeit nachzudenken. Über den Unfall, die nachbarschaftliche Situation davor und ob sie alles richtig gemacht hatte. Sie fasste einen Entschluss, wie sie in Zukunft besser mit Edgar umgehen könnte.

Acht Wochen später waren Edgar und Edith zu Hause und Garage samt Daimler für 30000 Euro repariert. Die Beiden konnten noch nicht viel machen und mussten die Instandhaltungsarbeiten an Haus und Grundstück erstmal ruhen lassen, was ihnen gar nicht behagte.
Edgar saß im Garten und sah mit mahlenden Kieferknochen dem Unkraut beim wachsen zu, als er am Gartenzaun seine Nachbarin bemerkte.

Sie hielt einen Teller mit einem Stück Kirschstreusel und Sahne in der Hand und lächelte freundlich. Edgar schämte sich, nahm seine Krücken und humpelte mühsam zu ihr herüber. "Was für eine nette Geste", sagte er kleinlaut zu ihr.
Die Nachbarin, ihr Name war Irene, nahm die Gabel, stach ein großes Stück Kuchen ab und steckte es in ihren Mund. Kauend und mit Sahne am Kinn sagte sie kalt:

"Dein Unkraut wächst schon zu mir rüber, Eddie. Wir wollen doch keinen Ärger, also kümmer dich gefälligst darum!"

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