Veröffentlicht: 23.08.2025. Rubrik: Unsortiert
Der Tod des Liebenden
Überraschend war alles anders. Ich stehe nun hier im Regen,
schaue an mich herunter und sehe ein Messer in meinem Bauch
stecken. Mein Blut mischt sich mit dem Regen zu einem grell-
roten Rinnsal. Ich stehe vor ihrem Haus. Die Jalousien sind
heruntergelassen, alles ist still, die Klingel ist abgestellt oder
defekt.
„Das ist ja mal wieder super gelaufen“, dachte er. Die Tränen,
die über sein Gesicht liefen, vermischten sich mit den Regen-
tropfen. Vorsichtig zog er das Messer aus seinem Bauch und
ließ es auf den Boden fallen, langsam und gleichmäßig schloss
sich die Wunde wieder, das Blutrinnsal versiegte.
Nun begann wieder eine Zeit des Leidens. Er würde jeden Morgen
an seinem PC die eingegangen E-Mails überfliegen, immer in der
Hoffnung, dass sie ihm geschrieben hätte. Aber er wusste, dass es
eine irrsinnige Hoffnung war, sie würde nicht schreiben, nie mehr,
so sagte sie. Und er konnte es verstehen. Es war ihre einzige Chance.
Sie musste sich schützen, hatte ihre Grundsätze. Er konnte das so
gut verstehen.
Der Regen löste das kräftige Rot des Blutes auf und spülte eine
hellrote Spur in den Straßengully. Das Letzte, was sie tat, bevor
sie ihm das Messer tief in den Bauch rammte, war, dass sie sagte,
dass sie ihn eigentlich mögen würde. Er lächelte süffisant vor sich
hin und stellte sich vor, was sie wohl getan hätte, wenn sie ihn nicht
gemocht hätte. Er hatte einfach nicht den richtigen Geruch, sagte
sie. Er setzte sich in den nassen Rasen, lehnte sich an die Hauswand
und wollte so lange warten, bis sich die Jalousien von ihrem Haus
wieder öffnen würden. Er würde einfach dort sitzen bleiben, hier
mitten im Regen. Zeit hatte er ja jetzt genug. Die Zeit hatte keine
Bedeutung mehr für ihn.
Er ließ das Geschehene nochmal Revue passieren. Es war eine so
schöne Zeit. Sie hatten zusammen gelacht, er hatte ihr Gedichte
geschrieben, und nun war alles aus. Aber sie hatte ihr Leben, ein
Leben das sie genießen wollte, ohne sich von anderen den Spaß
daran verderben zu lassen. Er wusste, dass sie recht hatte. Er
konnte das verstehen. Er fühlte sich erschöpft, war so unendlich
müde. Einfach schlafen, das wollte er tun. Der Regen konnte ihm
nichts mehr anhaben. Wie ein dunkler Traum breitet sich die
Bewusstlosigkeit aus.
Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen die blumenreichen Vor-
stadtgärten in ein helles Gelb tauchen konnten, erschrak eine
frühmorgendliche Joggerin. Sie sah den alten grauhaarigen
Landstreicher, etwas zusammengesunken an die Wand des
Hauses gelehnt, das schon seit so vielen Jahren leer stand.
Sein Kopf war ihr zugewandt und sie konnte das glücklich
lächelnde Gesicht des alten Mannes sehen. Seine dürre Hand
umklammerte den Griff eines Messers, das tief in seinem
Bauch steckte.
Belix Bahei
belixbahei@hotmail.com

