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7xhab ich gern gelesen
geschrieben 2025 von Hubert Staller.
Veröffentlicht: 05.10.2025. Rubrik: Menschliches


Träume sterben nie

Am späten Nachmittag hatte es begonnen, zu regnen. Ein leichter, kühler Landregen lässt das Draußen ungemütlich scheinen. Er steht am Fenster und schaut auf den Marktplatz unter ihm. Die Menschen tragen Regenkleidung. Ihre aufgespannten Regenschirme nehmen ihm die Sicht auf den Platz. Die Regentropfen spiegeln sich im fahlen Laternenlicht wie ein Lichtermeer von tausenden Feuerzeugen.
Er hört den Song „Hey Joe“ von Jimi Hendrix. Die Stehlampe spendet nur mattes Licht. Auf dem Beistelltisch steht ein Teegeschirr: Teekanne, Teetasse und Zuckerdose. Er nimmt sich die Tasse und schlürft einen Schluck. Er mag es, sich so zu entspannen. Eine Tasse Tee und in Ruhe seine Lieblingsmusik hören.
Als der Song verstummt, geht er zum Stubenbuffet, öffnet eine Tür und entnimmt ein Fotoalbum. Es ist groß, unhandlich und schwer. Er legt es auf den Tisch und öffnet es. Gleich auf der zweiten Seite sind zwei Fotos, die ihn interessieren.
Auf dem ersten Foto ist ein junger Mann zu sehen. Er steht auf einer kleinen Bühne, hier auf diesem Marktplatz. Die Gitarre überschwänglich über dem Kopf: strahlend, erschöpft und glücklich. Seine Hemdärmel sind hochgekrempelt, die Hemdknöpfe geöffnet. Auf seiner Brust eine Halskette mit einem Amulett. Ein in Silber eingefasster Onyx. Instinktiv greift er unter sein Hemd. Er fühlt dieses Amulett und lächelt. Auf dem zweiten Foto eine junge Frau mit wilden, lockigen Haaren. Lachend hält sie dem Fotografen ein Weinglas entgegen. Der Himmel über ihr ist rot, golden gefärbt und kündet vom Sonnenuntergang. Das Rathaus hinter ihr im frischen Weiß. Die Sonnenuhr lächelt so schön wie sie.
„Sie war wie ein warmer Sommerregen“, murmelt er, „sanft, mit schöner Stimme, grazil in ihren Bewegungen, eine schöne Frau eben … und doch hat sie alles verändert.“
Die alte Standuhr in der Ecke tickt laut in der Stille. Gleichmäßig, im 4/4-Takt. Ein Erbstück eines Großvaters.
Er schaut zur Küchentür. Die Tapete löst sich am Türrahmen. Sie ist leicht verschmutzt. In der Küche tropft der Wasserhahn. Sehr ungleichmäßig schlagen die Tropfen auf den Beckenboden, und doch vernimmt er eine Melodie, aus der er einen Song schreiben könnte.
„Eine kleine Bar am Meer“, sagt er, „eine kleine Bar am Meer wollten wir uns pachten. Jeden Abend Musik, Wein, lange Nächte. Ich würde Gitarre spielen, sie singen. Es wäre so schön geworden. Wir hatten daran geglaubt. Damals.“
Seine Augen werden feucht. Doch er wischt sich nicht über die Wangen, lässt es einfach geschehen. Er ist froh, dass er wieder weinen kann.
Dann kam der Job in der Werkstatt. Erst nur vorübergehend. Geld wollte er verdienen. Viel Geld, um die Träume finanzieren zu können. Später übernahm er die Werkstatt. Schnell die Träume verwirklichen, dachte er. Dann ein Kredit. Ein zu großer Kredit. Dann wurden die Eltern krank. Danach war sie weg. Dann … war es zu spät. Seine Eigentumswohnung fiel in die Insolvenzmasse. Er zog zu seinen Eltern und pflegte sie.
Er nimmt die Tasse in die Hand, nippt und verzieht das Gesicht. Der Tee ist längst kalt.
„Ich habe mir eingeredet, es sei das Richtige, Verantwortung zu übernehmen, Vernunft walten zu lassen. Das Leben eben. Warten auf den Moment, wo alles passt. „Aber weißt du…“ Die Stimme wird brüchig: „Dieses Leben ist kurz. Viel zu kurz, um zu warten. Sie hat damals das Richtige gemacht, hat ihre Sachen gepackt und ist gegangen. Sie wollte immer singen, immer auf der Bühne stehen, sich ihren Wunsch erfüllen. Ich hatte die Werkstatt und einen großen Kredit. Ich musste mich um alles kümmern. Um meine Mitarbeiter, dass sie pünktlich ihren Lohn erhielten. Um meine Eltern, weil ich die Pflegeplätze im Heim nicht bezahlen konnte. Ich konnte nicht einfach gehen. Verantwortung eben. Vernunft walten lassen. Und jetzt, jetzt habe ich nichts mehr.
Die Standuhr schlägt zur vollen Stunde. Der Westminster-Klang ist ihm vertraut. Er weckt ihn regelmäßig aus seinen Gedanken und holt ihn zurück in die Wirklichkeit.
Langsam schließt er das Album. Der Deckel knarzt ein wenig, so als wäre er nur wenig geöffnet worden.
Er steht auf und holt seine Gitarre, öffnet die ersten vier Knöpfe seines Hemdes und nimmt das Amulett in seine Hand. So wie früher, vor jedem Auftritt, führt er es an seine Lippen und küsst es. Leicht streichelt er die Saiten der Gitarre. In seinem Hinterkopf hört er eine Melodie und beginnt, sie zu summen: liebevoll und verträumt, im 4/4-Takt. Er stimmt die Gitarre und improvisiert diese Melodie. Eine erste Textzeile fällt ihm ein: „Träume sterben nie.“ Dann stellt er sich vor das Fenster, schaut hinaus in den Regen und beginnt zu spielen.
Sein Publikum ist heute scheu und eilt vorüber. Mit Regenschirm und in Regenkleidung. Das Publikum sieht ihn nicht. Und doch steht er auf seiner Bühne und fühlt sich im Rampenlicht. Die Regentropfen reflektieren das Laternenlicht und leuchten wie die Feuerzeuge seiner Fans.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Babuschka am 06.10.2025:
Kommentar gern gelesen.
Hallo Hubert,
seine Träume sind ihm geblieben, doch es ist ihm inzwischen klar, dass sie nie in Erfüllung gehen werden. Eine melancholische Geschichte, die zu Gemüte geht.
LG Babuschka

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