Veröffentlicht: 08.11.2025. Rubrik: Kinder und Jugend
Eriks größtes Abenteuer
Eriks größtes Abenteuer
Erik war ein kleiner Seehund und lebte mit seiner Mama Ragnhild auf einer Sandbank vor der Nordseeküste. Alles hätte so schön sein können, wenn…, ja, wenn Erik nicht ausgerechnet das kleinste neugeborene Jungtier unter den Robben gewesen wäre. Sein Papa Thorwald war der Leitbulle der Kolonie. Alle Weibchen gehörten zu ihm und somit bekam er natürlich auch viele Söhne und Töchter. Er hatte Erik gleich nach der Geburt besucht, weil er sehen wollte, ob dieser vielleicht eines Tages ein würdiger Nachfolger werden könnte. Das war nur den größten und stärksten Männchen vorbehalten.
Als Thorwald das schwächliche Seehundbaby erblickte, wandte er sich sofort ab und nahm kaum noch Notiz von ihm. Ragnhild brach es fast das Herz. Erik war ihr erstes Baby und seit Thorwalds Besuch versuchte sie alles, um ihren kleinen Sohn zu beschützen. Sie brachte ihn täglich zur Seehundschule und aus Angst, dass ihm etwas passieren könnte, erlaubte sie ihm nicht, mit seinen vielen Brüdern im Wasser zu spielen. Erik war verzweifelt. Die anderen Jungen nannten ihn bereits Muttersöhnchen und hänselten ihn, wo sie nur konnten.
Als die Lehrerin eines Tages erkrankte und die Schule eine Stunde früher als sonst endete, war Ragnhild noch nicht eingetroffen, um ihn abzuholen. Erik fasste einen folgenschweren Entschluss. Er wollte allen zeigen, dass er genauso stark und mutig war, wie sein Vater. Im letzten Sturm war ein Schiff der Menschen einige Kilometer vor der Küste gesunken und auseinandergebrochen. Die Stelle, an der das Wrack lag, war von gefährlichen Strömungen und Untiefen umgeben. Thorwald hatte deshalb allen Seehunden strengstens verboten, dort zu spielen. Erik dachte sich einen Plan aus.
Er wollte zum Schiff schwimmen und etwas davon mitbringen, damit die anderen sahen, dass er auch wirklich dort gewesen war. Dann, so glaubte er, werden sie ihn endlich mögen.
Er wartete, bis alle Seehundkinder die Schule verlassen hatten. Danach machte er sich auf den Weg ins offene Meer. Er kam gut voran. Die See war ruhig und die Sonne schien. Als er nach einer Weile das Wrack erblickte, stieß er einen Jubelschrei aus. Er hatte es geschafft. Immer wieder schwamm er um das Schiff herum und tauchte bis auf den Grund hinab, um nach einem Beweis für seinen Wagemut zu suchen. Schließlich fand er ein Stück Ankerkette, das er sich um den Bauch band. Zufrieden machte er sich auf den Heimweg.
Inzwischen war das Wetter umgeschlagen. Das passiert oft an der Küste. Ein Sturm war aufgezogen und vor dem kleinen Seehund bauten sich plötzlich meterhohe Wellen auf. Erik kämpfte nach kurzer Zeit um sein Leben. Er wurde wie ein Spielzeug von einer Welle zur nächsten geworfen. Als er endlich Land erkannte, war guter Rat teuer. Der Strand kam ihm fremd vor. Hier war er noch nie gewesen. Aber es half nichts. Erik war so erschöpft, dass er sich von der nächsten großen Welle auf den Sand spülen ließ. Er versuchte noch einmal seine Mama zu rufen. Doch sein klägliches Weinen verhallte im Wind. Ein paar Stunden vergingen.
Eine Urlauberfamilie machte einen Spaziergang am Strand. Ein kleines Mädchen lief auf Erik zu. „Papa, hier liegt ein Seehundbaby“, rief es aus. Der Vater reagierte schnell. „Fass es nicht an, Tina. Bleib zurück. Es darf keinen Menschengeruch tragen, sonst nimmt es die Mutter nicht mehr an. Sie ist möglicherweise ganz in der Nähe!“, warnte er die Tochter. Das Mädchen gehorchte. „Aber, Papa, vielleicht wurde es von seiner Mama im Sturm getrennt? Dann findet sie es nicht mehr!“, meinte sie besorgt.
Ihre Mutter lächelte dem Vater verständnisvoll zu und zog ihr Handy aus der Jackentasche. Sie führte ein kurzes Telefonat. „Mama hat gerade mit der Seehundaufzuchtstation gesprochen. Sie befindet sich hier ganz in der Nähe. Die Leute kümmern sich um das Kleine“, berichtete der Vater. „Es ist so niedlich, am liebsten möchte ich es mit nach Hause nehmen. Es kann in der Badewanne wohnen“, erklärte die neunjährige Tina spontan. Ihre Mutter lachte. „Wir können morgen in die Aufzuchtstation fahren und sie besichtigen. Dann besuchst du deinen kleinen Freund dort.“ Die Familie erwartete in einiger Entfernung die Ankunft des Autos der Seehundstation. Nach einer halben Stunde kamen zwei Frauen. Sie schauten mit Ferngläsern zu Erik und beschlossen, bis zum Abend zu warten.
Als Erik um sieben Uhr immer noch am Strand lag, holten sie eine kleine Wanne aus dem Auto und legten den erschöpften kleinen Seehund hinein. In der Aufzuchtstation wurde er ärztlich untersucht, geimpft und bekam zu essen. Ein kleines Wasserbecken wurde für ihn hergerichtet. Erik erholte sich dank der Hilfe rasch. Tina kam ihn jeden Tag besuchen und spielte mit ihm. Aber Erik blieb ein trauriger Seehund, der sehr viel weinte. Er vermisste seine Mama und hatte ein ganz schlechtes Gewissen. Sie wird mich bestimmt suchen, dachte er. Das hab ich nun davon, weil ich so ungehorsam war! Verzweifelt schaute er zwischen einer Düne hindurch auf den Strand hinunter und rief immer wieder kläglich nach Ragnhild.
Die hatte sich sofort nach dem Sturm auf die Suche nach ihrem Sohn gemacht. Aber sie konnte ihn nirgends finden. An allen bekannten Stränden war sie nun schon gewesen. Doch von Erik fehlte jede Spur. Vielleicht war ich doch zu streng, dachte sie. Lieber Meeresgott, gib mir bitte meinen kleinen Erik wieder. Sie schwamm auf den Strand der Seehundstation zu. Vor zwei Jahren war sie selbst hier gestrandet und hatte damals Hilfe von den Menschen erfahren. Deshalb wollte sie noch einmal ihr Junges rufen und diesmal hatte sie Glück. Erik spielte gerade mit zwei anderen Heulern, wie man die Seehundbabys nennt, als er den Ruf der Mutter hörte. Mit kräftiger Stimme antwortete er ihr. Auch Ragnhild rief ihn noch einmal ganz laut.
Die Mitarbeiter der Seehundstation sahen erfreut durch ihre Ferngläser zum Strand und erkannten das Weibchen sofort an seiner Markierung. Die erfahrenen Tierschützer zogen die richtigen Schlüsse und brachten Mutter und Kind wieder zusammen. Erik und Ragnhild umarmten sich überglücklich. Erik versprach seiner Mutter, nie wieder wegzuschwimmen, ohne ihr zu sagen, wohin er wollte. Ragnhild wischte sich eine kleine Freudenträne aus den Augen.
„Ich glaube, mein Schatz, du bist durch dein Abenteuer so erwachsen geworden, dass du in Zukunft ganz gut auf dich selbst aufpassen kannst. Ab morgen gehst du allein zur Schule und am Nachmittag spielst du mit deinen Brüdern und lernst, dich in die Gruppe einzufügen“, meinte sie lächelnd.
Die beiden blieben noch eine Woche in der Seehundstation, bis die Menschen sie wieder auf ihre Sandbank brachten.





