geschrieben 2022 von Andreas Mettler (Metti).
Veröffentlicht: 07.04.2022. Rubrik: Total Verrücktes
Der unsichtbare Horst
„Oh, vielen Dank. Ein Blumenstrauß aus Polypropylen“, hörte ich mich heucheln. „Mit LED-Beleuchtung. Ihr seid wirklich die allerbesten Kollegen auf der ganzen Welt.“
„Da hängt noch eine Grußkarte dran“, klärte mich die hektische Hildegard auf.
„Ah, ja“, staunte ich. „Tatsächlich!“
„Lies doch mal vor!“, rief mir nassforsche Norbert zu.
„Also dann. Da steht…“ Ich räusperte mich kurz. „Alles Gute zum Geburtstag.“
„Na, das ist doch was?“, meinte der unermüdliche Uwe.
„Nein, wirklich!“ Ich war den Tränen nahe. „Wie kommt ihr nur immer auf solch originelle Ideen?“
„Gell“, bestätige der wortkarte Wilhelm.
„Wir haben alle unterschrieben. Alle deine vier Kollegen.“
„Ja, Mensch. Ihr habt heute aber auch gar nichts ausgelassen!“
„Zur Feier des Tages machen wir jetzt Fotos von unseren Ärschen auf dem Fotokopierer“, meinte die hektische Hildegart.
„Au, fein“, sagte ich. Doch dann kam ich ins Grübeln. „Aber Moment mal. Da sind ja fünf Unterschriften auf der Grußkarte.“
„Wir sind doch auch fünf Mitarbeiter“, versuchte mich der nassforsche Norbert aufzuklären.
„Ja, stimmt…“, fast hätte er mich überzeugt. Doch dann: „Jetzt aber mal Butter bei den Fröschen: Ich selbst habe doch nicht unterschrieben.“
„Huch!“, stieß der unermüdliche Uwe aus. „Du hast Recht. Dann dürften eigentlich nur vier Unterschriften auf der Karte sein.“
„Genau!“, ergänzte der wortkarte Wilhelm.
„Das sieht aus wie der Name Horst“, grübelte ich.
„Definitiv“, meinte die hektische Hildegart.
„Aber wir haben keinen Horst in unserer Firma“, widersprach der nassforsche Norbert.
„Moment!“ Der unermüdliche Uwe ging zum Schubladenschrank mit den Personalakten. Er öffnete eine Mappe. „Da haben wir sie auch schon. Die Mitarbeiter der Firma Rein & Raus Gartenzwergzubehör und Steuerhilfe GmbH.“
Der wortkarge Wilhelm ergriff unerwartet das Wort: „Lasst mich schauen. Da haben wir Hildegard, Norbert, Uwe, mich und natürlich dich. Und Horst.“
„Tatsächlich. Und bei den Gehaltsabrechnungen steht er auch.“
„Der bekommt Geld?“, wunderte sich die hektische Hildegard.
„Und er schließt auch Verträge ab“, ergänzte der nassforsche Norbert. „Hier schaut mal. Alleine gestern hat er vier Gartenzwergkapuzen verkauft und fünf Steuererklärungen abgegeben.“
„Und hier: Unsere Kaffeekassenbuchhaltung.“ Uwe zeigte auf das Papier mit den braunen Kaffeeflecken. „Horst hat gestern neuen Kaffee gekauft und zwei Tassen Entkoffeinierten getrunken."
„Und auch noch das!“, Hildegard präsentierte ein Foto auf ihrem Handy. „Das ist der Betriebsausflug von letzter Woche. „Da hinter Wilhelm. Da steht doch noch jemand.“
„Etwas unscharf, aber die Stirn mit Halbglatze ist gut zu erkennen“, erklärte Uwe.
„Das muss der Horst sein!“, kombinierte ich blitzschnell.
„Schaut euch mal diese Urkunde an“, Wilhelm zeigte auf den großen Bilderrahmen an der Wand neben der Kaffeemaschine. „Horst ist aktuell der Mitarbeiter des Monats.“
„Hier auf dem Flur haben wir die beste Übersicht“, meinte ich.
„Wäre doch gelacht, wenn wir den Horst nicht finden können“, ergänzte Hildegard.
„Ich sehe also neun Türen“, Uwe begann mit dem Zeigefinger durchzuzählen. „Das Büro von Hildegard. Das Büro von Norbert. Von Uwe. Von dir und mir. Außerdem die Damentoilette, die Herrentoilette und die Kaffeeküche.“
„Ja, und dann noch Tür Nummer 9!“, ergänzte ich.
„Das muss der Horst sein!“, kombinierte Hildegard blitzschnell.
„Na, jetzt bin ich mal gespannt, wer uns hinter dieser Tür erwartet“, meinte Norbert.
„Ah, hallo Kollegen. Was liegt an?“, fragte Horst.
„Du bist Horst?“, fragte ich zurück.
„Na klar. Wieso auch nicht?“
„Es tut uns leid, dass wir dich bisher immer ignoriert haben“, meinte Hildegard mit leicht belegter Stimme.
„Ignoriert?“, wunderte sich Horst. „Ist mir gar nicht aufgefallen.“
„Na ja“, meinte Uwe mit einem hochmotivierten Gesichtsausdruck. „Ab sofort bist du immer mit dabei. Okay, Kumpel?“
„Danke“, antwortete Horst. „Aber eigentlich war ich das doch schon immer. Bei den Kaffeepausen. Den Betriebsausflügen. Beim Feierabend-Bier. Mit Hildegard habe ich die letzte Nacht verbracht.“
„Oh, stimmt“, meinte die Hildegard mit rotem Kopf.
Der Kaffee war noch etwas heiß und brannte auf meiner Zunge. „Manchmal sehen wir das Heu vor lauter Stecknadeln nicht.“
„Naja“, grübelte Norbert. „Wir haben ja auch immer sehr viel Arbeit.“
„Da übersieht man auch schnell mal was.“, ergänzte Hildegard.
„Aber einen Arbeitskollegen vergessen, mit dem wir jeden Tag zusammen sind? Das hätte uns nicht passieren dürfen.“, meinte Uwe.
„Lasst uns künftig ein Auge auf Horst werfen“, schlug ich vor. „Dann kommt das nicht mehr vor.“
„Ja“, sagte Wilhelm. „Aber Moment mal. Wer ist eigentlich Horst?“