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3xhab ich gern gelesen
geschrieben 2018 von Carl-Paul Hénry (Carl-Paul Hénry).
Veröffentlicht: 29.03.2018. Rubrik: Persönliches


Noch ein paar Schritte

„Gehen wir noch ein paar Schritte.“ Ihr Blick verriet mir nicht, ob dieses eine Frage, eine Bitte, oder eine Aufforderung war. Ich entschloss mich für Zweifel und Unsicherheit. Fünf Minuten des Smalltalks später saßen wir in der hintersten Ecke der alten ‚Bärenklause’ und ich war entschlossen, den gesamten Tisch für uns beide zu beanspruchen. Was wenig später zwei Damen mittleren Alters auf die Frage, ob noch Platz sei, krass aus meinem Mund zu spüren bekamen. Ich hatte ein Ziel und das wollte ich erreichen. Gabi hatte uns zwei Kaffee gebracht und fragte, ob wir die Speisekarte benötigten. Wir verneinten.

Sechsundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit, wahrscheinlich zu lang, um sich noch lieben zu können. Vor allem, wenn man(n) nicht an sich und der Beziehung arbeitet. Weshalb die Frage der Richterin, ob wir es nicht doch noch einmal versuchen wollten, ins Leere ging. Zwischen dem Büro 112 im Amtsgericht und der Kneipe hier lagen nur knapp 300 Meter und doch unendlich viele Träume, Visionen, Tränen des Glücks und des Leids, geheime Pläne und Stunden, Vertraulichkeiten, neues Leben, Urlaube, Weihnachtsfeste, Jahreswechsel und wirkliche Wunder. Alles vorbei! Alles vorbei?

Natürlich hatte ich der Richterin nicht gesagt, dass ich’s gerne noch einmal probieren würde. Doch wollte ich keinen Eklat oder ähnliches heraufbeschwören, zumal unser gemeinsamer Scheidungsanwalt, mit dem alles besprochen war, mit am Tisch saß. Der Kopf siegte über den Bauch und die Vernunft über die Gefühle. Mir war natürlich klar, dass man(n) Liebe nicht erzwingen kann, und dass Einwegliebe für eine authentisch intakte Beziehung nicht reicht. Auch Liebe kann sterben. Aber doch nicht die zwischen ihr und mir! Und doch. So hatte sie mir es vor achtzehn Monaten, nach ihrem Dreitagetrip an den Bodensee, wo sie sich heimlich mit ihrem Neuen getroffen hatte, offenbart. Auch Liebe kann sterben.

Es dauerte, aber ich musste es wohl akzeptieren. So schrieb ich vier Monate später folgende Zeilen nieder: Den Vogel, eingesperrt in einen Käfig, darfst Du nie ‚Vogel’ nennen; er braucht die Luft und seine Freiheit, nur dann hörst Du ihn wirklich singen. Er baut das Nest, wo er’s grad will, gemacht aus Ästen und aus Glück; lässt Du ihn frei, ganz wirklich frei, kann’s sein, er kehrt zu Dir zurück. Doch lass es sein, darauf zu hoffen, die Welt ist groß, der Vögel viele; ein anderer wird zu Dir kommen, schenkt Dir in seiner Freiheit neue Liebe!

Wir bestellten uns ein Viertele Riesling, dem noch einige folgen sollten. Was für eine schöne Frau! Warum nur bin ich mein Problem so spät und vor allem nur so bruchstückhaft angegangen? Es sollten noch Jahre vergehen, bis ich mir selbst eingestand, welchen Dämonen in mir ich bekämpft hatte, ohne ihn besiegen zu können. Ich wusste, dass es ihn gibt. Aber anstatt stehen zu bleiben und mich mit ihm zu versöhnen, oder zumindest auseinander zu setzen, war ich in panischer Angst vor ihm geflohen. Und nun stieg sie mit diesem Berthold ins Bett und er nahm sie, womöglich täglich mehrmals. Das war unerträglich. „Besser, deine Frau stirbt dir weg, als dass sie dich wegen eines anderen verlässt,“ hatte mir Norbert erklärt, als ich ihm von meiner Trennungsgeschichte erzählt hatte. Ich lernte ihn vor ein Paar Jahren in der Männersportgruppe der Volkshochschule kennen. Norbert verstand mich sehr gut. Er hatte seine Frau durch Krebs verloren. Aber das sei besser, als dass er wüsste, sie würde täglich mit einem anderen Mann rummachen, meinte er vollen Ernstes. Diese Philosophie allerdings konnte ich nicht teilen. Dafür hatte ich sie zu sehr geliebt. Hatte?


Wir saßen viele Stunden in der ‚Bärenklause’ und wir verbrachten gemeinsam die Stunden der Nacht mit Kochen und Lachen und nicht nur platonisch. Es war der beste Sex, den ich je mit ihr hatte. Doch was ich gehofft, erfüllte sich nicht. Am Morgen reiste sie ab, und seit dem haben wir uns nicht mehr gesehen. In den Folgejahren gab es die eine oder andere Frau in meinem Leben. Aber entweder war es immer nur eine kurze Zeit, oder hochkompliziert und zerbrach doch am Ende.

Nun weiß ich aber, dass der stete Tropfen nicht nur den Stein aushöhlt, sondern Wasser sich durchaus auch in Wein verwandeln kann. Ich habe es schon erlebt und ich hoffe, es widerfährt mir noch einmal. Und sollte es nicht so kommen, was durchaus in meinem Denken Platz hat, so will ich dankbar sein für jeden Schritt in meinem Leben, den ich damals mit ihr und mein Leben lang mit den anderen – wenn auch wenigen - lieben Menschen gehen durfte. Denn mein kleines Gedicht von jenem Vogel war noch nicht am Ende – und das Ende geht so: Und hoffst Du Jahr für Jahr vergeblich, und Du bist immer noch allein; wirst Du Dein Glück woanders finden, und wirst selbst frei wie ein Vogel sein.

Da es aber bekanntlich die Hoffnung ist, die zuletzt untergeht, habe ich bis dahin immer noch den Glauben, dass ich sie eines Tages treffe, und ich – obwohl wir uns bis dahin fremd - wie selbstverständlich zu ihr sage: „Gehen wir noch ein paar Schritte!“

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Evelyne Leesker am 02.04.2018:

Eine sehr schöne Geschichte, und sehr schön geschrieben!




geschrieben von Waldfee am 09.06.2018:

Eine Geschichte, die zu Herzen geht.

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