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geschrieben 2020 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 23.07.2020. Rubrik: Historisches


Die gar nicht so gute alte Zeit

Die siebzehnjährige Elisabeth lebte mit ihren Eltern Karl und Martha, die bei ihrer Geburt beide schon über vierzig gewesen waren, auf einem kleinen Bauernhof am Dorfrand. Da es noch kein Fernsehen und kein Internet gab, kannte Elisabeth nichts anderes als ihre Heimat und war recht zufrieden mit ihrem Leben. Nur über ihre Nase ärgerte sie sich. Sie war groß und klobig, ganz anders als die Riechorgane von Karl und Martha.

Eines Tages sah Elisabeth zufällig ein Bild, das einen verstorbenen ehemaligen Bürgermeister des Dorfes zeigte, Franz Kramer. Kalt lief es ihr über den Rücken: seine Nase glich genau der ihrigen!

Konnte es sein, dass ihre Mutter und Franz Kramer…?

Elisabeth kannte aus dem Religionsunterricht der Dorfschule das Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“. Je mehr sie sich in ihren Verdacht hineinsteigerte, desto stärker wurde ihre heimliche Verachtung für Martha. Zwar wagte sie nicht, offen ihre Gedanken auszusprechen, aber ihr Verhalten der Mutter gegenüber wurde immer verkrampfter.

Als Martha draußen die Tiere versorgte und Karl mit Elisabeth allein war, fragte er: „Warum bist du in letzter Zeit so seltsam zu Mutter?“

Elisabeth zuckte zusammen. Dann entschied sie sich zu einer Gegenfrage: „Vater, kanntest du Franz Kramer?“

„Den früheren Bürgermeister? Ja. Warum?“

„Seine Nase hatte dieselbe Form wie meine…“, stammelte Elisabeth.

„Und? Vermutest du etwa, er könnte dein leiblicher Vater gewesen sein? Mutter könnte mich mit ihm betrogen haben?“

Beklommen nickte die Siebzehnjährige. Karl hielt kurz inne und seufzte dann:

„Elisabeth, wir wollten es dir nie sagen, aber um Mutters Ehre willen muss ich es jetzt tun. Du hast deine Nase tatsächlich von den Kramers geerbt, aber Franz war nicht dein leiblicher Vater, sondern dein leiblicher Großvater.“

Verständnislos schaute Elisabeth ihn an. Dann erzählte er ihr, was ihr für immer ein Geheimnis hätte bleiben sollen:

„Wie du weißt, hatten wir eine Tochter namens Helene, die im Alter von zwanzig Jahren ertrunken ist. Du dachtest bisher, sie sei deine Schwester gewesen, aber in Wirklichkeit war sie deine leibliche Mutter.“

Geschockt brach die Jugendliche in Tränen aus. Karl fuhr fort:

„Sie ging mit Anton Kramer, dem Sohn von Franz. Er sprach von Heirat. Aber als Helene schwanger war, ließ er sie sitzen. Er hatte ein Mädchen aus reichem Hause kennengelernt, Margarete… Helene hoffte bis zu deiner Geburt, dass er sie doch noch heiraten würde, aber vergebens. Nachdem sie dich zur Welt gebracht hatte, ging sie ins Wasser. In ihrem Abschiedsbrief bat sie uns, dich als unser eigenes Kind aufzuziehen und dir nie zu sagen, dass wir in Wirklichkeit deine Großeltern sind.“

Elisabeth war zutiefst erschüttert. „Danke, dass ihr mich behalten habt“, schluchzte sie. Als sie sich schließlich die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte, fragte sie: „Was ist denn aus Anton und Margarete geworden?“

Karls Miene verfinsterte sich. „Die hat der Teufel geholt! Vier Wochen nach Helenes Tod sind sie selber umgekommen. Abends saßen sie immer auf einer Bank unter einer alten Eiche. Dort wurden sie von einem herabstürzenden Ast erschlagen. Geschah ihnen recht! Auch Margarete! Als sie erfuhr, dass Helene von Anton ein Kind erwartete, hätte sie sich sofort wieder von ihm trennen müssen!“

Etwas ruhiger sagte er dann: „Elisabeth, geh jetzt zu Mutter und bitte sie um Verzeihung, dass du so etwas Schlimmes von ihr gedacht hast!“

Ausweichend antwortete das Mädchen: „Sie ist noch immer draußen. Ich gehe in mein Zimmer, mir ist nicht gut.“

Nachdem Elisabeth die Tür hinter sich geschlossen hatte, warf sie sich auf ihr Bett und weinte bitterlich. Ihre ganze Identität erschien ihr plötzlich in Frage gestellt – wie sollte sie ihre (Groß-)Eltern fortan nennen? wer waren ihre Vorfahren väterlicherseits? –, aber am meisten quälte sie ein neuer Verdacht.

Elisabeth besaß ein phänomenales Gedächtnis und erinnerte sich noch genau an Marthas Geburtstag vor zwei Jahren, als diese den Gästen Fotos gezeigt hatte. „Dieser hier hieß Paul“, hatte sie bei der Erläuterung eines Gruppenbildes gesagt. „Leider ist er kürzlich verstorben. Vor zwanzig Jahren hatte ich ihm das Leben gerettet, als er von einer Giftschlange gebissen worden war. Aus Dankbarkeit schwor er mir, alles zu tun, worum ich ihn jemals bitten würde. Er war Baumkletterer.“

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Dan Prescot am 23.07.2020:

Ich habe tatsächlich einen Augenblick gebraucht...Klasse!




geschrieben von Christine Todsen am 26.07.2020:

Danke, freut mich, dass die Pointe erkennbar ist (ganz leicht ist es ja nicht...)!

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