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geschrieben 2016 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 02.09.2022. Rubrik: Spannung


Das Urwaldhaus - Teil 2

„Na, wie war’s bei Rosi?“, fragte Gert Kleefeld seine Angetraute am Abend. „Habt ihr in Erinnerungen geschwelgt und über eure Lehrer gelästert?“

„Von wegen!“, lachte Irene und fügte stolz hinzu: „Ich habe mich als Detektivin betätigt.“

Der Kommissar reagierte mit ungläubigem Entsetzen. „Was sagst du da? Hat es womöglich etwas mit diesem vermaledeiten Urwaldhaus zu tun?“

Irene nickte und erzählte ihrem Gatten alles, was Rosis Partner ihr berichtet hatte. Danach fuhr sie fort:

„Thomas schien meine Idee, Stefan könne Anne umgebracht haben, für Unsinn zu halten. Trotzdem erklärte ich ihm und Rosi, was ich vermute. Stefan ist im Nachbarhaus aufgewachsen. Seine Eltern könnten ihn als Kind gewarnt haben, dass die Beeren der Neuberts hochgiftig seien. Als er Anne aus irgendeinem Grund loswerden wollte –“

„Moment mal“, unterbrach Gert, „bringt man seine Frau dann gleich um? Scheidung geht doch auch.“

„Sicher, aber manche bevorzugen nun mal leider die radikalste Lösung.“

„Stimmt. Erzähl weiter.“

„Ich vermute, dass er die Beeren schon einige Tage vorher gepflückt und im Haus versteckt hatte. Vielleicht hatte Anne gesagt: ‚Am Wochenende schelle ich mal bei den Nachbarn und besuche die alte Dame‘. Da war in ihm der Entschluss gereift. Zunächst pflückte er in einem unbeobachteten Moment die Beeren und lagerte sie an einem geheimen Ort.

Als Anne dann tatsächlich ins Nachbarhaus gegangen war, sorgte er dafür, dass sie direkt bei der Rückkehr das Gift zu sich nahm. Vielleicht als Saft, den er aus den Beeren zubereitet hatte. Als er den Notarzt rief, behauptete er lediglich, seine Frau sei zusammengebrochen, und wollte damit den späteren Eindruck erwecken, sie sei in der Zeit zwischen dem Anruf und dem Eintreffen des Arztes gestorben. Ich nehme aber an, dass er die Notrufnummer erst wählte, als Anne schon tot war. Das geht bei diesen Beeren ja schnell. Sicher ist sicher.“

Gert stimmte ihr zu.

„Vor dem Notruf“, fuhr Irene mit ihrer Theorie fort, „ließ er außerdem das Saftglas, oder womit Anne das Gift sonst zu sich genommen hatte, verschwinden. Erst dann rief er den Arzt, der nur noch ihren Tod feststellen konnte. Als man bei der Obduktion das Gift entdeckte, wird Stefan gesagt haben: ‚Die Neuberts! Die haben solche Bäume! Und meine Frau war unmittelbar vor ihrem Tod dort…‘ Da die Familie eh schon gemieden wurde, war es leicht für ihn, den Verdacht auf sie zu lenken.“

„Alle Achtung, Liebste, das ist gut kombiniert. Was ist denn aus diesem Stefan geworden, lebt er noch immer hier?“

„Nein. Thomas sagte, er habe das Haus verkauft und sei ins Ausland gegangen. Wohin genau, wusste er nicht. Was müsste man denn jetzt machen, um ihn des Mordes zu überführen?“

„Damit kann die hiesige Polizei sich befassen. Ich bin wirklich froh, dass ich nur für Essen zuständig bin und nicht auch noch für Erlental.“ Gert Kleefeld schnappte sich sein Rätselheft und signalisierte damit, nicht mehr gestört werden zu wollen.

*

Am nächsten Tag übertrug das Fernsehen nachmittags ein Fußballspiel, das Gert unbedingt sehen wollte. Irene hatte bereits vorher angekündigt, während dieser Zeit allein spazieren zu gehen. Zum Glück hatte Gert nicht gefragt, ob sie ein bestimmtes Ziel habe…

Bald hatte sie das Urwaldhaus erreicht. Bisher war sie mit ihrem Mann immer nur daran vorbeigegangen. Jetzt jedoch wechselte sie auf die andere Straßenseite und blieb dort stehen, um das Haus und seine Umgebung besser betrachten zu können.

Die leuchtend roten Beeren, die auch von Irenes jetzigem Standort aus gut sichtbar waren, wuchsen tatsächlich so hoch oben, dass nur Menschen mit der entsprechenden Körpergröße sie ohne Zuhilfenahme einer Leiter pflücken konnten. Irenes Augen wanderten zum Nachbarhaus. Es gab nur eins, denn auf der anderen Seite des Urwaldhauses lag eine Wiese. Spielsachen im Vorgarten ließen vermuten, dass dort jetzt eine Familie mit Kindern wohnte.

Das Spielzeug hatte sie auch bei ihren Spaziergängen mit Gert schon bemerkt, aber erst jetzt kam ihr ein Gedanke, der sie tief beunruhigte. Wussten die neuen Nachbarn, dass die Beeren tödlich giftig waren? Zwar konnten Kinder nicht an sie hereinreichen, solange sie an den Bäumen hingen, und außerdem waren die beiden Grundstücke durch eine Mauer getrennt. Trotzdem…

Während Irene noch nachdachte, ging die Tür des Nachbarhauses auf. Eine junge Frau trat heraus und sammelte die Spielsachen ein. Irene überquerte die Straße. „Entschuldigen Sie“, rief sie vom Bürgersteig aus der Frau zu, „wohnen Sie schon länger hier? Wissen Sie, dass die Beeren da oben“ – sie zeigte darauf – „hochgiftig sind?“

„Ach, das ist aber nett von Ihnen“, erwiderte die Angesprochene in rheinischem Tonfall. „Ja, leider weiß ich das schon. Meine Schwester ist daran gestorben.“

Irene glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Ihre Schwester? Sind Sie die Schwester von Anne Winter?“

„Ja. Kannten Sie sie? Sie sind auch nicht von hier, oder?“

„Nein, ich mache mit meinem Mann hier Urlaub. Wir kommen aus Essen. Ihre Schwester kannte ich leider nicht. Aber Bekannte, die hier in der Nähe wohnen, haben mir von ihrem tragischen Tod erzählt.“

„Ja, das war schlimm. Ich heiße übrigens Claudia Berg. Und Sie?“

„Irene Kleefeld. Meine Bekannten sagten, Ihr Schwager habe danach das Haus verkauft. Aber dass er es an Verwandte seiner Frau verkauft hat, wussten sie offenbar nicht.“

„Hat er auch nicht. Er verkaufte es an eine Familie aus Köln. Aber die musste aus beruflichen Gründen schon bald wieder wegziehen und verkaufte es weiter an uns. Wir hatten damals gerade unsere Zwillinge bekommen…“ Claudia Berg plauderte munter drauflos, doch nichts von dem, was sie erzählte, war für Irene von Interesse. Daher wartete diese, bis Claudias Redefluss kurz stoppte, und fragte dann:

„Ihr Schwager ist nach dem Tod Ihrer Schwester ins Ausland gegangen, nicht wahr?“

„Ja, nach Argentinien. Dort hat er wieder geheiratet und ist Vater geworden.“

Auweia, dachte Irene, damit dürfte eine Auslieferung schwierig werden.

„Warum gucken Sie denn so enttäuscht?“, fragte Claudia unbefangen.

„Ich… äh… musste gerade an Argentinier denken, mit denen ich mal Ärger hatte“, log Irene. „Wie war das eigentlich mit dem Tod Ihrer Schwester?“

„Die Polizei sagte, Anne hätte offenbar nicht gewusst, dass diese Beeren giftig sind. Sie hätte einfach ein paar davon gepflückt und gegessen.“

Also die Unfalltheorie, dachte Irene und fragte dann: „Haben Sie eigentlich Kontakt zu den Neuberts?“ Sie wies auf das Urwaldhaus.

„Nein, das sind ganz seltsame Leute. Hier im Dorf glaubte man sogar, sie könnten Anne vergiftet haben. Das war jedoch laut Polizei nicht der Fall.“

Dieses Gespräch bringt mich nicht weiter, dachte Irene. Es sei denn, ich stelle eine Frage, über die Gert vermutlich entsetzt wäre… Sie nahm all ihren Mut zusammen und fragte Claudia Berg: „Könnte Ihre Schwester nicht auch von Ihrem Schwager vergiftet worden sein?“

Entgeistert starrte Claudia sie an. „Von Stefan? Niemals! Wie kommen Sie bloß darauf?“

„Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass Ihre Schwester, die doch sicherlich eine vernünftige Frau war, Beeren pflückte und aß, die sie nicht kannte.“

Claudia zögerte und sagte dann: „Wahrscheinlich kannte sie sie doch.“

Irene runzelte die Stirn. „Wollen Sie damit andeuten, Ihre Schwester könnte… sich das Leben genommen haben?“

„Ja. Nach außen hin ließ sie sich nie etwas anmerken, aber sie litt an schweren Depressionen.“

Betroffen verabschiedete Irene sich und ging zurück zur Pension Wiesengrund, wo ihr Mann noch immer fernsah. Abends erzählte sie ihm alles. Er hörte ruhig zu und sagte zum Schluss:

„Tragisch, aber so etwas gibt es nun mal.“

„Ich war fest davon überzeugt, dass Stefan sie umgebracht hatte… Es wird mir eine Lehre sein. Nie wieder werde ich solche blödsinnigen Theorien aufstellen. Ich war nicht besser als die Leute hier, die die Familie im Urwaldhaus verdächtigt haben.“

„Na, dann hatte die Sache also doch etwas Gutes. Und nun denk nicht mehr dran. Morgen machen wir mal wieder einen schönen langen Spaziergang.“

„Aber nicht mehr am Urwaldhaus vorbei!“, sagte Irene mit Nachdruck.

„Gott sei Dank!“, lachte ihr Mann Gert.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Christelle am 02.09.2022:
Kommentar gern gelesen.
Spannend, auch der erste Teil. Ich habe gedacht, dass es Irene gelingt, das Rätsel um die vergiftete Frau zu lösen. Und ihr Ehemann wäre beeindruckt. Doch es gibt immer noch andere Möglichkeiten, auf die man nicht so ohne Weiteres kommt. Ein schöner Schluss!




geschrieben von Gari Helwer am 02.09.2022:
Kommentar gern gelesen.
Sehr spannend, Christine! Nun rätsel ich, welche Beeren denn infrage kämen! (Eisenhut, Goldregen, Tollkirsche und Eibe sind ja schon im "Kirschlikör"...) ;-) LG




geschrieben von Christine Todsen am 02.09.2022:

Danke Euch! Tja, Gari, es sind halt Fantasie-Beeren von exotischen Bäumen (siehe Teil 1, Ende des 4. Absatzes)... LG Christine




geschrieben von ehemaliges Mitglied am 03.09.2022:
Kommentar gern gelesen.
Beide Teile sind spannend erzählt, Christine - schön auch das versöhnliche Finale.




geschrieben von Christine Todsen am 03.09.2022:

Danke auch Dir, Horst! Dass Du - ebenso wie Du, Christelle - den Schluss rühmst, erstaunt und erfreut mich. Die Geschichte ist ja schon sechs Jahre alt. Ich hatte sie für den Krimi-Wettbewerb eines Verlags verfasst, der sie aber verschmähte. Vielleicht weil sie keinen typischen Krimi-Schluss hat!

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