Veröffentlicht: 06.09.2025. Rubrik: Aktionen
Das Teppichfass meines Vaters
Zum Thema „Das 20. Jahrhundert im Teppichfass“ eine Geschichte zu schreiben, fällt mir nicht leicht.
In der kreativen Wortschöpfung „Teppichfass“ sehe ich das gesamte 20. Jahrhundert. Die Teppiche als Lebensgeschichte einzelner Menschen.
Es gab Geschichten von Menschen, deren Leben sehr geradlinig, farblos und fast ohne Brüche, verlief. Wie einfarbige Teppiche, mit kleinen Farbtupfern. Unauffällig langweilig. Kaum wert, es zu erzählen. Und es gab in diesem bewegten Jahrhundert sehr viele Menschen, deren Lebensgeschichte sehr bunt und durch sehr viele Brüche gekennzeichnet war. Jede Farbe erzählt in diesem Teppich eine Geschichte, ein bestimmendes Ereignis oder nur eine Episode im Leben dieser Menschen. Verwoben mit Knoten und Noppen entsteht ein Lebens-Teppich. Farbenfroh und wertvoll wie ein Perserteppich.
Ich erzähle hier über einen Mann, der fast das gesamte 20. Jahrhundert bewusst erlebt hat. Ein Jahrhundert in seiner bunten Schönheit, aber auch in seinen hässlichsten und schwärzesten Jahren.
Mein Vater wurde 1907 geboren. Den Ersten Weltkrieg erlebte er als Kind. Diese sinnlose Menschenschlächterei prägte seinen weiteren Lebensweg. Wohl auch, weil nahe Angehörige den Heldentod für Deutschland sterben mussten.
Sehr früh begann er gegen diese Grundübel der Menschheit, Kriege, sinnloses Töten und Zerstören, zu kämpfen. Er arrangierte sich bei den „Roten Bergsteigern“ in der Sächsischen Schweiz und kämpfte gegen den aufkommenden Faschismus.
Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, wurde er verhaftet. Die Menschenverachtung der Nazis lernte er im Gefängnis und KZ am eigenen Körper kennen. Die körperlichen Narben waren sichtbar geblieben. Seine seelischen Narben ließen ihn wortkarg werden. Bis Ende Dezember 1939 wurde er gefangen gehalten.
Am 1. Januar 1940 musste er in einem Strafbataillon an vorderster Front kämpfen. Dass er diesen Krieg und dieses Strafbataillon überlebte, verdankte er wohl eher einem Zufall.
Mein Vater war gebürtiger Sachse. Sein Zugführer, ein junger Leutnant, ebenfalls. Dieser stammte aus Zwickau. Er setzte meinen Vater vorrangig für die rückwärtigen Dienste ein. „In diesem Zug sind wir die zwei Einzigen aus Sachsen“, sagte er zu meinem Vater. „Wenn wir überleben wollen, müssen wir uns zurückhalten.“
Der junge Leutnant aus Zwickau überlebte nicht. Er fiel 1945. Vater kam in sowjetische Gefangenschaft.
Ein Hauptgrund seines Überlebens war, so vermute ich, seine Wortkargheit. Er nahm Befehle kommentarlos hin. Wohl auch, weil er gezwungen worden war, zuzusehen, wie sein jüngster Bruder standrechtlich erschossen wurde.
Nach seiner Gefangenschaft gehörte er zu den Menschen, die mit ihrer Hände Arbeit einen neuen Staat aufbauten. Vater musste nach seiner Heimkehr die Neubauernstelle seiner Eltern übernehmen. Sein Vater war schwer krank und starb wenig später. Das bedeutete tägliche schwere Arbeit. Erst als Neubauer, dann als Genossenschaftsmitglied der LPG. Sein ganzes Leben, über die Rente hinaus, bestand aus Arbeit. Einen gemeinsamen Urlaub mit meinen Eltern habe ich nie erleben dürfen.
Als Kind wollte ich gern Geschichten von ihm hören. Geschichten, in denen er als Held in Erscheinung trat und so tapfer kämpfte wie Lederstrumpf und Chingachgook oder wie Klaus Störtebeker und die Vitalienbrüder. Aber nichts dergleichen. Erzählen konnte er nicht und wollte es auch nicht. Als Held fühlte er sich nicht. Auch nicht uns Kindern gegenüber. Über seine Inhaftierung und Kriegserlebnisse schwieg er, wie so viele Soldaten, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten. Nur selten gab er Episoden preis.
Vater war überzeugt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Die Idee des Sozialismus umzusetzen, war seine Maxime. Dafür setze er seine ganze Kraft und Überzeugung ein. Ein Dasein aller Völker, in einem friedlichen Nebeneinander, ohne Kriege und sinnlose Zerstörungen, hielt er für erstrebenswert.
Die Außenpolitik der DDR verfolgte er deshalb sehr aufmerksam. Er war stolz, als die DDR und die BRD am 18. September 1973 als gleichberechtigte deutsche Staaten in die UNO aufgenommen wurden. Die DDR war nun ein weltweit anerkannter und souveräner Staat.
Auch an den innenpolitischen Geschehnissen war er stark interessiert und verfolgte alle Entscheidungen aufmerksam. Er rechtfertigte auch manche fragwürdige Entscheidung der Regierung.
Nach der Ausweisung Wolf Biermanns 1976 stellten sehr viele prominente Persönlichkeiten den Ausreiseantrag und verließen die DDR. Nicht nur bei meinem Vater wurde ein Denkprozess über die Ursachen dieser Ausreiseanträge in Bewegung gesetzt.
Einmal, es war im März 1979, sagte mein Vater einen Satz, den ich damals nicht verstand: Werner Lambertz, Mitglied des Politbüros, war zu einem Staatsbesuch in Libyen. Er galt als Hoffnungsträger vieler DDR-Bürger und wurde als Kronprinz von Honecker gehandelt. Ihm trauten die DDR-Bürger am ehesten zu, das Land zu reformieren. Bei einem Flug mit einem Hubschrauber während dieses Staatsbesuches stürzte dieser ab. Alle Insassen konnten nur tot geborgen werden.
Vater war erschüttert und sagte: „Das waren diese Schweine.“ „Den haben sie abgeschossen.“
Ich glaubte damals, er meinte den politischen Gegner. Mit ihm darüber reden konnte ich nicht. Er wich mir mürrisch aus.
Nach der Wende lernte ich, frei zu denken. Dieser Satz meines Vaters ging mir dabei oft durch den Kopf. Allmählich erfuhr ich aus den Medien, wie und mit welchen Methoden die Staatssicherheit in der DDR gearbeitet hatte. Vater hatte wohl von diesen Methoden gewusst. Deshalb ist er mir mürrisch ausgewichen.
Fragen kann ich ihn nicht mehr. Er ist 1992 gestorben. Ein hohes Alter für einen Mann, der so viel erleben und ertragen musste. Ein sehr bewegtes und arbeitsreiches Leben. Dieses Leben zu erzählen, dazu hätte ich schon Lust. Mir sind zu wenige Episoden bekannt, um aus diesen Farbtupfern einen Teppich zu weben. Einen schönen, farbenfrohen Lebens-Teppich mit Noppen und Knoten.
Vater hat die Geschichten seines Lebens mit ins Grab genommen.
Sie befinden sich in einer kleinen Urne, einem schwarzen Teppichfass mit silberner Rose.

