Veröffentlicht: 08.11.2025. Rubrik: Fantastisches
Jaromirs Traum
In der Nacht zum ersten August hatte der Verkaufsmanager Jaromir Kreutzer einen seltsamen Traum: Er blickte in den Spiegel und rieb sich verdutzt die Augen: Sein linkes Ohr hatte sich deutlich vergrößert; und nicht nur das: Es stand, zumindest im Vergleich zu seinem Gegenstück, dem anderen, dem rechten, auch deutlich weiter ab. Zunächst dachte Kreutzer an eine Sinnestäuschung. Doch auch ein zweites, und sogar drittes Hinsehen bescherte keinen besseren Befund.
Kreutzer ging in die winzige Küche seiner Zweizimmerwohnung, nahm ein leichtes Frühstück ein und machte sich auf den Weg zum Geschäft, einem Herrenausstatter in bester Lage. Die irritierten Blicke, die sein linkes, vergrößertes Ohr trafen, ignorierte er. Im Geschäft war sein erster Gang zu einem der bodenlangen Garderobenspiegel. Inzwischen hatte sich das bewusste Ohr noch weiter vergrößert, hatte oben eine Spitze gebildet, sich sogar tütenförmig eingerollt, und es fühlte sich an, als sei es von einem dünnen, flaumigen Pelz überzogen.
Einen Moment stand er wie versteinert, dann lachte er laut auf und wackelte mit den Ohren. Nicht, weil er´s irgendwie lustig fand, das Ohr – im Gegenteil, am liebsten hätte er vor Entsetzen laut aufgeschrien, ein Messer geholt und es abgeschnitten; doch dazu fehlte ihm der Mumm. Er wollte schlichtweg prüfen, ob das Ohr tatsächlich an seinem Kopf festgewachsen war, oder nur eine lächerliche Fiktion. Doch das Ohr wackelte, sogar deutlicher als das andere.
Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Mit diesem Ungeheuer von Ohr sollte er vor eine anspruchsvolle Kundschaft treten? Nicht auszudenken!
Schon sah er seinen Chef angewidert auf das unselige Ohr starren, das jetzt tatsächlich aussah wie das Ohr eines Esels: Lang und spitz, grau, pelzig . . .
Vor Entsetzen schwanden Kreutzer die Sinne.
Gegen sechs Uhr erwachte er schweißnass, sein erster Gedanke: Das Ohr! Mechanisch griff er sich an die Stelle, an der er das verdammte Ohr zu finden fürchtete; jedoch, zu seiner großen Verwunderung, ertasteten seine Finger kein großes, spitzes Ohr, geschweige denn ein Eselsohr, sondern nur ein normales, rundes, bekanntes. „Ha!“, rief er erleichtert, „also war das alles doch nur ein dummer Traum!“ Beschwingt schwang er sich aus den Federn und blickte dabei auf seinen Nachttisch – da stand das Ohr, das Eselsohr, fast aufrecht und spitz auf Seite 95 – –
Was war geschehen?
Kreutzer pflegte vor dem Einschlafen noch gern ein wenig zu lesen. Bevor ihm dann die Augen zufielen, platzierte er ein Lesezeichen, klappte das Buch zu und legte es auf seinen Nachttisch. Doch am Abend zuvor konnte er das Lesezeichen nicht finden und kniff deshalb eine Ecke der zuletzt gelesenen Seite um – für jeden Bücherfreund eine Barbarei, die ihm auch, so müde er war, ein schlechtes Gewissen bescherte. Auch schlug er das Buch nicht zu, aus welchem Grund auch immer, und legte es auf seinen Nachttisch. Bald schlief ein. Über Nacht richtete sich der Kniff langsam wieder auf . . .
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