Veröffentlicht: 22.11.2025. Rubrik: Menschliches
In einem Land, wo Stau ein Fremdwort scheint
Gerade erst die Grenze passiert, fällt bereits ein Teil der Hektik von uns ab, den wir noch in unserem Gepäck tragen. Was für eine Wohltat, sich in einem Land bewegen zu dürfen, wo Stau ein Fremdwort scheint. Keine Autobahnbaustellen mehr, die einen jahrelang begleiten und auf denen man nie jemanden arbeiten sieht. Für die man aber Monat für Monat Steuern zahlt. Ich würge den Gedankengang ab. Hier sollte kein Platz mehr sein für Gedanken, die mich daran erinnern, dass unser Beamtenstaat uns langsam, aber sicher zur europäischen Witzfigur macht, über die sich unsere Nachbarn nur noch kaputtlachen.
Ein riesiger Zug Gänse erhebt sich von einem Küstenstreifen und ich muss unweigerlich an die literarischen Abenteuer von Nils Holgerson denken. Dem, mit der Hausgans Martin und dem Hamster Krümel, standen zwei Weggefährten zur Seite, die unterschiedlicher nicht sein konnten, und trotzdem hielt man zusammen. Welch Vorbild in einer Zeit, in der sich Gesellschaften nur noch spalten, anstatt miteinander zu reden und gemeinsam den Karren aus dem Dreck zu ziehen, den man ja schließlich auch gemeinsam hineinbefördert hat.
Nur wenige Kilometer weiter und bis auf die Straße ist von Zivilisation nichts mehr zu sehen. Minute um Minute vergeht und weit und breit keine Menschenseele. Mir stellt sich die Frage, ob wir wirklich überbevölkert sind. Wo es doch anscheinend noch so viel Platz gibt. Doch der Earth-Overshoot-Day, der 2025 bereits auf den 24. Juli gefallen ist, spricht eine deutliche Sprache. Ich sollte also eigentlich gar nicht hier sein, um unsere Ressourcen und unseren Lebensraum zu schonen. Aber ich bin halt Mensch und meine Bedürfnisse zu befriedigen, hat oberste Priorität.
Das war schon immer so, nur mit dem Unterschied, dass unsere Bedürfnisse nur noch eine Richtung kennen: mehr. Mehr Wohlstand, mehr Reisen, mehr Hüftfett, mehr Volkskrankheiten. Seltsam, dass unsere Bedürfnisse uns schon lange krank machen und kaum jemand auf die Idee kommt, dass dort ein untrennbarer Zusammenhang besteht. Mit Verzicht würde es uns tatsächlich besser gehen. Aber erzähl das mal einem Reisejunkie, der glaubt, dass ein Foto von irgendeinem Instagram-Hotspot den heiligen Gral der Coolness darstellt. Oder dass der Strand auf Hawaii umso viel schöner ist als der in Italien, obwohl er dort nur den halben Tag mit geschlossenen Augen sein Wohlstandsfett in der Sonne grillt. Unsere Statussymbolgeilheit wird uns irgendwann noch den Rest geben.
Eine Herde Galloway-Rinder, die hier eigentlich nicht heimisch sind, taucht vor uns auf und grast inmitten ursprünglicher Natur. Was für ein Anblick. Ich bekomme glatt Gänsehaut, halte an, um einige Fotos zu schießen, um den Moment festzuhalten, den ich so wohl nie wieder erleben werde. Blöd nur, dass ich keinen Instagram-Kanal habe! Aber ich brauche nun wirklich keine Likes, die nur der Natur und den Galloways gehören, denn die hätten sie schließlich verdient. Na ja, wir schmücken uns anscheinend gern mit fremden Federn und das selbst in einem Land, wo Stau ein Fremdwort scheint.
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