Der Geist der Vergangenheit

Robert wollte seine Frau Karin zu ihrem Geburtstag überraschen. Heimlich lud er Freunde und
Bekannte ein. Als die Gäste kamen, war Karin völlig überrascht und wie im siebten Himmel. Die
Feier wurde ein voller Erfolg: Grillen, Trinken, Karaoke, Tanzen – die Stimmung war ausgelassen
und bombig.
Kurz vor Mitternacht verabschiedeten sich die letzten Gäste.
„Ach, war das eine tolle Party! Aber ich bin erledigt, meine Schuhe sind heiß gelaufen“, stöhnte
Robert.
„Kein Wunder“, sagte Karin sarkastisch, „du warst die ganze Zeit mit Monika beschäftigt.“
Robert verteidigte sich: „Als Gastgeber sollte man die Besucher unterhalten und auch mal Quatsch
machen.“
„Ja, aber nicht die ganze Zeit nur mit Monika“, konterte Karin.
Und dann kam der Satz, der Robert traf:
„Mein Oskar hätte sich anders benommen.“
Robert wurde verärgert. „Dein Oskar hatte einen Autounfall und lebt nicht mehr. Wir sind seit sieben
Jahren verheiratet, und ich höre fast jeden Tag: Mein Oskar hätte das so geregelt, mein Oskar
hätte das nie gemacht. Wann hört das endlich auf?!“
Karin fühlte sich beleidigt, packte eine kleine Reisetasche und knallte die Tür zu.
„Ich schlafe bei meiner Mutter!“
Robert blieb allein zurück.
In der Nacht träumte er von einem Geist im weißen Gewand.
„Wer sind Sie?“, fragte Robert.
„Ich bin der Erste deiner Frau“, antwortete der Fremde.
Voller Aufregung begann Robert aufzuzählen:
„Du bist der Mann, der Geburtstage und Hochzeitstage nie vergessen hat. Jede Woche frische
Blumen nach Hause brachte. Nie nach anderen Frauen geschaut hat …“
Er wollte weiter die angeblichen Tugenden aufzählen, doch Oskar unterbrach ihn:
„Entschuldigung, aber wo ist Karin?“
„Meine Frau schläft heute bei ihrer Mutter“, sagte Robert.
Oskar wirkte traurig. „Ach, mach dir keine Sorgen, Kumpel. Bei mir hat sie das auch oft gemacht
und sie kam immer zurück. Darf ich hier auf sie warten?“
Der Geist lächelte.
„Glaubst du wirklich, ich war perfekt? Die Termine hat mir meine Sekretärin gesagt. Die Rosen
habe ich wegen Rabattgutscheinen gekauft. Und wenn ich nicht 2,0 Promille im Blut gehabt hätte,
hätte ich die Linkskurve geschafft – und wäre gar kein Geist geworden.“
Robert war sprachlos.
„Und was die Frauen betrifft“, fuhr Oskar fort, „die Engel haben sich beim Chef über mich beschwert– wegen Rauchen, Trinken und Belästigung.“
Zum Abschied sagte der Geist:
„Karin und du solltet meinen Namen nicht mehr erwähnen. Da oben bekomme ich deswegen
Probleme.“
Robert erwachte schweißgebadet. Lange lag er nachdenklich im Bett und fragte sich:
„Neigen wir nicht alle dazu, die Vergangenheit zu verschönern? Damals war alles besser: die
Musik, die Moral, das Essen, die Politik.“
Er erinnerte sich an seine Jugend. Die Nächte waren kurz, die Träume groß – und trotzdem war
das Leben voller kleiner Entbehrungen. Gerade diese Entbehrungen ließen die Erinnerungen heute
so glänzend erscheinen. Damals war schon die Fahrt mit dem Mofa in die Disco ein echtes
Erlebnis.
Ein Bauer hatte ihm einmal gesagt:
„Früher war alles besser. Früher war alles aus Holz.“
Robert schmunzelte bitter.
„Aber trotzdem hat das Essen besser geschmeckt – weil wir zu wenig davon hatten. Heute ist alles
aus Plastik. Sogar die Erinnerungen."

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