Kurzgeschichten-Stories
Autor
Schreib, wie du willst!
Startseite - Registrieren - Login - Kontakt - Impressum
Menu anzeigenMenu anzeigen
hab ich gern gelesen
geschrieben von Carl-Paul Hénry (Carl-Paul Hénry).
Veröffentlicht: 23.02.2018. Rubrik: Fantastisches


BAMBUSVOGEL

Die Abendsonne gab eine milde Wärme. Yüo war den Fluss hinab Richtung Osten gegangen, um den roten Ton zu holen. Von dort kam er jetzt zurück und stapfte den gewundenen Pfad hinauf zur Hütte. Bekleidet mit einem blauen Schurz und einem naturbelassenem Überwurf, trug er zwei Bottiche gefüllt mit Lehm. Aber an diesem Abend sollte alles ganz anders werden als gewöhnlich. An der Stelle angekommen, wo Yüo einst seinen ersten Teestrauch gepflanzt hatte, vernahm er den Gesang eines Vogels, den er zuvor noch nie gehört hatte. Das Zirpen der Grillen und das Schnarren und Schrillen der Zikaden, das Rauschen der Blätter und das Plätschern des kleinen Flusses untermalten einen unerhört schönen Gesang.

Der junge Mann blieb stehen, und suchte mit den Augen die Gegend ab. Doch vergebens. Welches Geschöpf nur konnte so makellose und betörende Töne von sich geben? Die Melodie schien ihm eher von Geistern auf einem himmlischen Instrument gespielt. Der Bauer versuchte genauer hinzuhören, um herauszufinden, woher die Laut kamen. Dann, einen Moment später, erblickte Yüo den Sänger auf einem Stapel Bambus, der neben der Hütte lag, und noch verarbeitet werden musste.

Es wunderte Yüo, dass der Vogel zunächst unsichtbar geblieben war. Und hätte dieser nicht kurz mit den Flügeln geschlagen, wäre er im Schutze des Riedstockes auch für ihn weiter unsichtbar geblieben. Sein Gefieder war nämlich der Farbe des reifen Bambus sehr ähnlich. Nur der Hals und ein Streifen auf Brust und Bauch waren von leichtem Grün. Der Schnabel aber war schwarz, gleich dem Ruß der Kieferrinde.

Es mochten vielleicht dreißig Schritte bis zu dem Platz sein, wo sich der seltsame Gast niedergelassen hatte. Mit gestrecktem Hals sang er mit ganzer Kraft sein Lied gen Himmel, als wolle er die Götter lobpreisen. Yüo bückte sich, um sein schweres Joch absetzen zu können. Doch in dem Moment, als die Behälter den Boden berührten, verstummte der Gesang. Kurz hielt der Vogel inne und flog dann gen Waldesrand, der untergehenden Sonne entgegen.

Welch ein Gesang! Es waren nicht nur Laute für das Ohr – es war auch eine Botschaft für das Herz. Es war nicht nur eine Melodie – es war ein Gedicht. Es war nicht nur Musik – es war Gefühl.

Später, als er die Hühnersuppe schlürfte, musste Yüo immer wieder an den seltsamen Vogel denken. Der Wohlklang seines Gesanges wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Lange noch, im Schein des Feuers, lauschte er in die herannahende Dunkelheit, wohl wissend, dass es kaum einen Vogel gab, der des Nachts singt. An diesem Abend entschloss sich Yüo, nicht im Schutze des Hauses, sondern bei den wärmenden Steinen der Kochstelle zu schlafen. Welch ein Gesang! Yüo schlug das Yakfell um sich und bettete seinen Kopf auf dem Reiskissen. „Es gibt keine Zufälle,“ murmelte er und dämmerte dahin. Als der Morgen kam, fiel es ihm nicht leicht zu unterscheiden, was er geträumt und was er wirklich gewesen war.

Als drei Tage später, etwa beim Höchststand der Sonne, Chang Tou-fa zu der Hütte seines Freundes kam, war dieser nicht ausfindig zu machen. Wo Chang auch suchte, er fand Yüo nicht. Er schaute die Terrassen hinunter zum Bach, ging ein paar Schritte in den Wald und schlug sogar den Gong, um auf sich aufmerksam zu machen. Weit konnte Yüo aber nicht sein, denn der Kochtopf mit der guten Hühnersuppe dampfte über dem Feuer. Chang nahm nichts von dem würzigen Gericht, sondern setzte sich nach einer Zeit der Höflichkeit auf das alte Weinfass. Dieses stand zwischen Haus und den Ställen im wohltuenden Schatten der alten Kastanie. Er war bereit zu warten. Mit einem Tuch wischte sich Chang den Schweiß von der Stirn und kämmte sein langes Haar mit den Fingern in den Nacken. Dann nahm er einen Schluck aus dem Lederbeutel und ließ den Fächer aus Sandelholz vor seinem Gesicht spielen.

Während er eine zeitlang so verweilte, ließ sich nicht weit von ihm in dem aufgeschossenen Ginsterbusch ein Vogel nieder. Dies war nichts Ungewöhnliches, denn in der Nähe von Hütten und Stallungen gab es immer ein paar Krumen zu finden. Der Vogel zog die Aufmerksamkeit des müden Wanderers auf sich, denn er war von außergewöhnlicher Schönheit. Um das Tier nicht aufzuschrecken, hatte er mit dem Fächeln innegehalten. Aufmerksam und regungslos betrachtete er den Neuankömmling. Dessen Gefieder war tiefgelb und an manchen Stellen wie Bambus braun gesprenkelt. Von der Kehle abwärts bis über den Bauch lief ein schmaler Streifen von zartem Grün.. Welch ein wunderbares Geschöpf! Niau-Zhuzi, Bambusvogel, wäre der treffende Name für ihn. Chang hatte seinen Hunger ganz vergessen – sogar die heimatlichen Sorgen.
Regungslos war sein Körper – nicht aber seine Seele. Welch ein Geschöpf! Welch ein Moment im Bogen der Unendlichkeit!.

Dann musste Chang seine Betrachtung beenden, denn ganz unverhofft unterbrach der Vogel seine Beschäftigung und stieß sich von dem Ginster ab. In Richtung des Baches flog er. Nun bemerkte Chang seinen Freund Yüo, der aus dem Wald getreten war. Auf dem Rücken trug er ein Bündel dünnen und ebenen Holzes. Der Wartende erhob sich von dem Weinfass und ging auf Yüo zu.

„Wo de peng you. Wo hen gaoxing ni ren shi. Ni hao ma? - Mein Freund, schön dich zu sehen. Wie geht es dir?”, sprach zuerst Chang. Yüo aber ließ das Bündel von seiner Schulter gleiten. „Danke, auch ich freue mich, dich zu sehen, mein Freund. Beide hatten sich voreinander verbeugt. „Oh ja, es geht mir immer gut, wenn ich zu Gast bei dir sein darf, wo de peng you.“ - „Das freut mich zu hören, wo de peng you. Ich hörte den Gong, den du schlugst.“

„Wie lange wartest du schon auf mich?“, fragte Yüo und fuhr fort: „Komm, setz’ dich mit mir ans Feuer. Wir wollen uns - wenn es dir recht ist - mit einem Mahle stärken und auch gemeinsam den Cha trinken.“ Mit einladender Armbewegung bat der Gastgeber Chang an das Feuer.

„Seit ich ankam, ist der Schatten etwa einen Finger weit gewandert.“ Chang machte eine bedeutungsvolle Pause und sprach in gesenktem Ton: „Aber langweilig wurde mir dabei nicht.“ Dann griff er in die Kitteltaschen und brachte zur Freude Yüos zwei Jadesteine hervor. „Da ich weiß, mein Freund, dass grüne und schwarze Jade hier nicht zu finden sind, habe ich sie dir mitgebracht.“ Yüo nickte mit einem breiten Lächeln. „Xiexie! Ni shi fan le ma? – Vielen Dank! Hast du heute schon etwas gegessen?“

Es war die Einladung zur dampfenden Suppe! Niemand in der Provinz Qinghai konnte sie so gut kochen, wie der Sohn des Ku. Immer hatte Chang mit seinen Augen um eine Schale Hühnersuppe betteln müssen. Und beileibe nicht immer war er damit erfolgreich gewesen. Später, als sie beim süßen Tee saßen, erzählte Chang seinem Freund von dem schönen Vogel, der ihm im Schatten der Kastanie Gesellschaft geleistet hatte. „Er war da?“ - „Wie, du hast ihn auch schon gesehen?“ - „Ja, und seit drei Tagen warte ich auf ihn.“

Nun sprudelte es aus Yüo heraus. Er berichtete seinem Freund von der Anmut des Vogels und wie vor allem sein Lied ihn so tief berührt hatte. Chang lauschte aufmerksam. Mal nickte er beifällig, mal zog er die Augenbrauen nach oben, mal runzelte er die Stirn, mal schien er abwesend. Als sie die Pfeife rauchten, und während Chang in der Glut der Kochstelle stocherte, sprach er: „Wenn dir so an dieser Kreatur liegt, rate ich dir, ein Netz zu flechten, es dort beim Ginsterbusch auszulegen und ...“ Barsch unterbrach ihn Yüo: „Er könnte dabei verletzt werden.“ Er zog an der Pfeife, legte den Kopf zurück und blies den Rauch gen Himmel. „Und du weißt ja, dass die Alten gesagt haben, es sei besser, den Dingen ihren Lauf zu lassen.“ - „Damit alles zur freien Entfaltung kommt“, ergänzte ihn Chang und beide lachten.

Sie saßen noch lange zusammen. Sie redeten und schwiegen, tranken von dem Tee und ließen ihre Gaumen von Tabak und Wein verwöhnen - die Seele aber von alten Geschichten und Mutmaßungen über dieses und jenes. Sie verstummten erst, als der Mond seine Bahn vollendet hatte und von dem Feuer nur noch eine blasse Glut geblieben war.

Später am Morgen, nach einem Bad im Fluss und gestärkt durch eine Mahlzeit, machte Chang sich zu seiner Weiterreise nach Golmud auf. Dort wollte er einige nützliche Werkzeuge erstehen und das nahegelegene Kloster aufsuchen.

„Bitte entzünde auch für mich eine Butterkerze in den heiligen Hallen“, meinte Yüo Sie hatten sich zum Abschied umarmt. „Ich werde es tun.“ - „Was?“ - „Na, eine Kerze für dich entzünden.“ - „Ach so, natürlich. Danke mein Freund.“ - „Dafür nicht.“

counterhab ich gern gelesen

Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

Einen Kommentar schreiben

Weitere Kurzgeschichten von diesem Autor:

Im Spannungsfeld von Integration & Assimilation
Mit den Autos durch die 1960er und 1970er Jahre
Wahrheit ist, was im Leben Bestand hat
alles klein, oder was? utopie oder unsinn?
Erstes Bier und erste Liebe