geschrieben 2025 von Rautus Norvegicus (Rautus Norvegicus).
Veröffentlicht: 24.08.2025. Rubrik: Nachdenkliches
Die Einsicht
Sie hat lang gewartet, diesen Augenblick herbei gesehnt. Dabei hatte alles mal so gut angefangen.
Sie kam aus gutem Hause, ihre Eltern, beide bodenständige, strebsame und gottesfürchtige Leute, hatten sich ihr Leben lang die Hände blutig gearbeitet, damit es ihr später einmal gut gehen würde.
Landwirtschaft, so schön, aber auch so hart. Das wollte sich Ottilie nicht länger antun. Jedoch, es
hatte immer zum Leben gereicht, mal besser, mal schlechter. Schließlich ging es immer weiter, immer schneller, bergab mit ihr. Zu den körperlichen Problemen, die das Altwerden für jeden Menschen mit sich bringt, spürte sie in sich eine ständig wachsende Verbitterung darüber, das sie mit jüngeren Leuten einfach nicht mehr so gut, so selbstverständlich wie in den vergangenen Jahren, kommunizieren konnte. Was würde von ihr bleiben?
Gedichte. Oh ja, sie hatte es geliebt, wundervolle Gedichte zu ersinnen, anspruchsvoll waren sie immer, darauf legte Ottilie größten Wert. Aber seit Jahren war sie allein. Nach und nach hatte sie alle Freunde und Menschen, die ihr einst wohlgesonnen waren, gegen sich aufgebracht. Nicht nur einmal passierte es, dass sie Menschen 'en passant' beleidigte! Niemand besuchte sie mehr. Hatte sie ihren letzten Gedanken etwa laut ausgesprochen?
Eine Hand hatte sich auf ihre Schulter gelegt, eine freundliche Stimme ertönte. „Doch, irgendwann
komme ich zu jedem, und heute erscheine ich auch bei dir.“ Hinter Ottilie stand, mit erhobener Sense, der Tod. Aber als er der armen Ottilie gewahr wurde, schulterte er sie wieder, strich Ottilie beruhigend über
das Haar und verschwand ins Nichts.
Ende
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