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geschrieben 2018 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 19.07.2018. Rubrik: Spannung


Der Zettel am Fenster

Gaby hatte das Glück, dass ihre Arbeitsstätte nur wenige Minuten Fußweg von ihrer Wohnung entfernt lag, am anderen Ende der Buchenstraße. Jahraus, jahrein war sie diesen Weg gegangen, ohne dass jemals etwas Nennenswertes passiert war.

Daher stutzte sie sofort, als sie eines Nachmittags in einem Kellerfenster einen Zettel erblickte. In Kinderschrift stand darauf „Hilfe!“

Gaby überlegte nicht lange. Sie wählte mit ihrem Handy den Notruf und berichtete, was sie gesehen hatte. Wenige Minuten später kam ein Polizeiauto angebraust. Zwei Beamte – ein Mann und eine Frau – sprangen heraus. Erleichtert begrüßte Gaby die beiden und zeigte auf den Zettel. „Könnte es sein“, fragte sie, „dass dort im Keller ein Kind gefangen gehalten wird?“

Die Polizisten sahen sich den Zettel an. „Wahrscheinlich nicht“, antworteten sie dann. „Der Zettel klebt ja außen am Fenster. Ein Kind im Keller hätte ihn von innen angeklebt.“

„Ach ja! Wie dumm von mir!“

„Nein, nein, es war völlig richtig, dass Sie uns angerufen haben. Es kann durchaus sein, dass der Zettel etwas bedeutet. Wissen Sie, wer in dem Haus wohnt?“

Nachdem Gaby die Frage verneint hatte, ging die Polizistin zur Haustür und schaute auf die Klingelschilder. „Vier Parteien wohnen hier“, sagte sie. „Zu welcher der betreffende Kellerraum gehört, kann man an den Schildern natürlich nicht sehen.“

Im nächsten Moment öffnete sich die Tür. Eine ältere Frau wollte gerade nach draußen gehen und hielt erschrocken inne, als sie die beiden Beamten sah. „Ist was passiert?“

„Wir wissen es noch nicht“, antwortete der Polizist. Dann schilderte er kurz die Sache und fragte: „Wissen Sie, wem der Kellerraum dort gehört? Kennen Sie vielleicht die Schrift auf dem Zettel?“

Die Frau – sie hieß Maria Schwarz – ging nah an den Zettel heran. „Nein, die Schrift kenne ich nicht. Eine Kinderschrift, nicht? Und wem der Keller gehört? Warten Sie mal… das zweite Fenster von links… das ist Lisa Fuchs. Die Tochter des Vermieter-Ehepaars Weber. Dem gehört der Keller ganz links.“

„Haben Sie eine Vermutung, was der Zettel bedeuten könnte?“

Maria Schwarz schüttelte den Kopf. „Nein. Die Webers und ihre Tochter sind ganz normale Leute. Die Tochter hat einen vierjährigen Sohn. Nach der Trennung von ihrem Mann ist sie mit dem Kind ins Elternhaus zurückgezogen. Leider sind alle vier zurzeit verreist, sodass sie Ihnen nicht weiterhelfen können. Ich kümmere mich solange um die beiden Wohnungen.“

„Haben Sie den Schlüssel für den Kellerraum der Tochter?“

„Nein, aber ich kann ihn aus ihrer Wohnung holen.“ Die Situation war der Mieterin sichtlich unangenehm, aber sie wusste, dass sie sich den Polizisten nicht widersetzen durfte. Bald kam sie zurück und überreichte ihnen den Schlüssel. Während Gaby draußen wartete, gingen die drei zum Keller von Lisa Fuchs. Die Beamten öffneten sämtliche Schränke und schauten unter alle Möbel, ohne etwas Verdächtiges zu finden.

„Offenbar war der Zettel tatsächlich ein dummer Kinderstreich“, sagte der Polizist zu Gaby, als alle wieder draußen standen. „Wir nehmen ihn aber mit. Und wenn Sie irgendetwas erfahren, was mit dem Fall zu tun hat, informieren Sie uns bitte.“

„Darf ich den Zettel fotografieren?“, bat Gaby aus einer plötzlichen Eingebung heraus. Es wurde ihr erlaubt. Dann verabschiedeten sich die Beamten von ihr und Frau Schwarz, und mit einer seltsamen Mischung aus Erleichterung und fortgesetzter Spannung ging sie nach Hause.

*

Drei Tage später traf Gaby sich in einem Café mit ihrer alten Schulfreundin Kirsten. Obwohl beide noch immer in ihrer Heimatstadt lebten, sahen sie sich kaum noch und freuten sich über das Wiedersehen.

„Mein Wochenende war stressig“, klagte Kirsten. „Ich hatte meinen Onkel Hans und meine Tante Erika zu Besuch, die auch noch ihre achtjährige Enkelin Helen mitgebracht hatten.“

„Sind deine Verwandten denn so anstrengend?“, fragte Gaby etwas überrascht.

„Zumindest der Onkel und die Tante! Die kleine Helen ist dagegen lieb. Guck mal, sie hat ein Gedicht für mich geschrieben!“ Stolz überreichte Kirsten ihrer Freundin das Blatt, das mit „Helen“ unterzeichnet war.

Als Gaby nach einigen Minuten immer noch nichts sagte, erkundigte sich Kirsten besorgt: „Ist was?“

Stockend fragte Gaby: „Hat Helen das selbst geschrieben? Ich meine, ist das Helens Schrift?“

„Ja! Was ist denn los damit?“

Gaby ergriff ihr Handy. „Vor kurzem klebte an einem Kellerfenster ein Zettel, auf dem ‚Hilfe!‘ stand. Ich habe die Polizei gerufen, aber sie konnte nichts finden. Ich durfte den Zettel fotografieren. Schau mal – das große ‚H‘, das ‚l‘ und das ‚e‘ – sehen die nicht genauso aus wie bei Helen?“

Kirsten wurde blass. „Ja.“ Wie um sich zu beruhigen, redete sie dann los: „Das kann aber nicht sein! Helen geht es gut! Sie wohnt ja auch gar nicht hier, sondern hundert Kilometer entfernt. Nur zu dem Besuch bei mir hatten ihre Großeltern sie mitgenommen, weil ihre Eltern verreist waren.“

Ein Gedanke schoss Gaby durch den Kopf. „Du sagtest, dass Helens Großeltern sehr anstrengend seien. Gibt es dafür einen Grund?“

„Ach, eigentlich sind sie erst seit rund zwei Jahren so. Damals mussten sie von hier wegziehen, weil ihr Vermieter Eigenbedarf angemeldet hatte. Er wollte die Wohnung in der Buchenstraße für seine Tochter und ihr Kind haben. Onkel Hans und Tante Erika sind dann zu ihrer eigenen Tochter, Helens Mutter, gezogen. Aber sie haben immer noch Heimweh. ‚Hätte das junge Ding mitsamt Baby nicht woanders hinziehen können? Hatten wir nicht die älteren Rechte?‘ Ich glaube, am liebsten würden sie den Vermieter und seine Tochter umbringen. Oder sich zumindest ganz fürchterlich an ihnen rächen.“

„Ich ahne was…“, murmelte Gaby. „Könnte es sein, dass sie Helen aufgefordert haben, den Zettel zu schreiben und ans Kellerfenster der Tochter zu kleben? Damit die ganze Familie richtig Stress mit der Polizei kriegt?“

Kirsten war überrascht. „Das könnte sein! Das traue ich ihnen zu!“

„Dann würden sie aber enttäuscht sein zu hören, dass alle verreist waren und die Polizei nur den Kellerraum inspiziert hat. Ich glaube auch nicht, dass da noch was nachkommt.“ Nach kurzem Überlegen fügte Gaby hinzu: „Sag ihnen das aber nicht. Sonst brüten sie beim nächsten Mal noch üblere Rachepläne aus.“

„Das Schlimmste ist, dass sie Helen mit hereingezogen haben“, sagte Kirsten. „Andererseits – ein wenig kann ich ihre Wut über den Rausschmiss aus der Wohnung auch verstehen. Sie hingen an ihr.“

Als Gaby sich von ihrer Freundin verabschiedet hatte und heimging, klangen ihr die Worte des Polizisten im Ohr: „Wenn Sie irgendetwas erfahren, was mit dem Fall zu tun hat, informieren Sie uns bitte.“

„Wie immer ich mich entscheide, es wird falsch sein“, seufzte sie und beschleunigte ihre Schritte, da ein Gewitter nahte.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Wutoka am 23.07.2018:

Die Geschichte ist Klasse geschrieben, wirkt aber unvollendet. Sorry, nur ein (meine) Meinung.




geschrieben von Christine Todsen am 23.07.2018:

Hallo Wutoka, es freut mich, dass Du meine Geschichte „Klasse geschrieben“ findest. Der offene Schluss ist gewollt. Im Wikipedia-Artikel „Kurzgeschichte“ steht: „Der offene Schluss ‚zwingt‘ den Leser förmlich dazu, über das Geschehen nachzudenken, denn es bleiben noch Fragen übrig.“ In der vorliegenden Geschichte mag sich der Leser fragen: „Wie würde ich mich an Gabys Stelle entscheiden?“ Übrigens ist auch der Hinweis auf das nahende Unwetter nicht nur meteorologisch gemeint, sondern auch als Andeutung des „Gewitters“ im übertragenen Sinne, das sich möglicherweise bald abspielt (falls Gaby die Polizei informiert, ODER falls sie es nicht tut, ODER…) – Eigentlich bevorzuge ich in meinen Erzählungen Schlusspointen, aber ab und zu kann ein offener Schluss auch interessant sein.

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